Auch Gefängnismauern können ihre Liebe nicht aufhalten

Kann Zuneigung zwischen zwei Menschen wachsen, wenn eine von beiden in Haft ist? Minsker Tagebuch vom 31. 3. 21

Ehrlich gesagt, möchte ich ein Tagebuch aus Minsk schreiben, in dem es um den Frühling geht, um die Liebe und um „love cats“, und nicht über diesen Müll, der hier jeden Tag abläuft. Wenn man morgens Nachrichten liest oder in den sozialen Medien unterwegs ist, wartet man immer darauf: Gibt es vielleicht heute eine gute Nachricht, und sei es nur eine einzige? Aber stattdessen sieht man, wie es sich jedes Mal mehr verdüstert. Und versteht: Morgen wird es nur noch dunkler.

Übrigens habe ich dann doch eine Geschichte über die Liebe gefunden. Jana Orobejko und Walera Tomilin lernten sich im Juli 2020 kennen. Zum Herbst hin verloren sie den Kontakt, dann schrieb das Mädchen: „Sie haben meine Freundin geholt, jetzt holen sie wahrscheinlich auch mich. Ich werde ruhiger, wenn du mir weiter schreibst.“ So geschah es: Jana wurde verhaftet. Sie war eine der neun StudentInnen, die am 12. November festgenommen wurden. Anklagepunkt: Organisation von Aktionen, die grob die öffentliche Ordnung gestört hätten. Darauf stehen drei Jahre Haft.

Seit vier Monaten schickt Walera ihr täglich einen Brief und jeden Samstag bringt er für sie ein Päckchen zum Gefängnis. Walera ist 25 Jahre alt, er arbeitet als Programmierer in einer Fabrik für optisches Gerät. Jana hatte an der Uni studiert und wollte Lehrerin für visuelle Kunst werden. Sie zeichnete Karten für politische Gefangene.

„Wir haben uns im Juli auf einer Veranstaltung kennengelernt“, erzählt der junge Mann. „Jana ist hübsch, klug und lieb, mit ihr zusammen war es leicht und fröhlich, darum hat sie mir sofort gefallen. Aber ich war in einer Beziehung, die kurz vor der Trennung stand, deshalb haben wir uns nur unterhalten. Und dann kam so viel Chaos in mein Leben: Revolution, Arbeit, Studium, Einberufung in die Armee, eine Covid-19-Infektion. Erst nach Janas Verhaftung habe ich verstanden, dass das alles Quatsch ist. Was auch passiert, wichtig ist, nicht zu vergessen, wer du bist, was du fühlst – und dass man alles zu seiner Zeit tun soll. Ich denke nicht, dass Jana sich für Politik interessiert hat, sie möchte nur, dass es im Land normal zugeht. Dass Menschen würdig leben, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Das Hauptproblem ist, dass die Belarussen nicht sie selbst sein können. Das ganze System ist darauf aufgebaut, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Im Fernsehen erzählen sie, wie gut in unseren Fabriken gearbeitet wird. Wie gut die Menschen verdienen – aber in einem normalen Land muss man niemanden von so was überzeugen.“

Janas Familie lebt in Brest, sie hat vier Geschwister, von denen zwei noch nicht volljährig sind. Janas Mutter nennt Walera „den Verlobten“, er selbst hält sich nicht dafür. Obwohl, so sagt er, was ändert das? In einem seiner Briefe schrieb er: „Wenn sie dich in ein Straflager schicken, dann lass uns heiraten.“ Sie antwortete: „Keine schlechte Idee.“

„Ich hab das Gefühl, niemand ist mir als Mensch so nah wie sie. Ich denke, ihr geht es auch so. Selbst wenn nach ihrer Freilassung keine große Liebe zwischen uns entsteht, werden wir weiter Freunde sein. Und Freundschaft besteht darin, dass Menschen sich als Menschen lieben und einander helfen. Dazu kommt, dass ich das Gefühl habe, ihr helfen zu müssen. Ich finde nicht, dass sie mir nach ihrer Freilassung etwas schuldet und wir deshalb zusammenkommen müssen – das wäre unehrlich.“

Walera gibt monatlich etwa 150 Euro für Lebensmittel aus, die er Jana schickt, und für Zeitungs- und Zeitschriftenabonnements. „Ich würde sie gerne ins Kino oder Theater einladen, aber die Möglichkeit habe ich nicht“, sagt er. „Es bleiben nur Briefe, Lektüre und Päckchen. Ich schreibe ihr Nacherzählungen von Artikeln über Kunst und Geschichte … Ich schreibe meine Gedanken nieder, erzähle, was ich bei der Arbeit gemacht habe. Von Anfang an war ich nicht sicher, ob die Umschläge Jana erreichen, deshalb habe ich entschieden: Wenn ich jeden Tag etwas schicke, durchbreche ich die Mauer der Zensur. Dann habe ich erfahren: Sie bekommt alles, aber mein Wunsch, jeden Tag mit ihr zu,reden', blieb. Päckchen ins Gefängnis zu bringen – das ist nicht lustig, es ist notwendig. Jana braucht das. Und ich brauche es auch.“

„Niemand ist mir als Mensch so nah wie sie. Ich denke, ihr geht es auch so“

WaleraTomilin, 25 Jahre alt

Janka Belarus

Aus dem Russischen Gaby ­Coldewey