Eben nicht der Kirchentag

Kurz vor Beginn ist in Erfurt das erste Sozialforum in Deutschland noch nicht überall zu spüren. Doch immerhin ist der Bürgermeister selbst ein Bürgerbewegter, und auch Skeptiker arbeiten am Gelingen

AUS ERFURTTOM STROHSCHNEIDER

Man muss sich beeilen, wenn man in Erfurt ankommen will. Kaum hat der Intercity nach Düsseldorf gehalten, fährt er auch schon wieder ab. Erfurt ist bloß eine Durchgangsstation wie viele andere auch. Die Landeshauptstadt sieht man der Bahnhofsbaustelle jedenfalls nicht an. Und man fragt sich zum ersten Mal: Warum eigentlich Erfurt? Wenn sich Deutschlands soziale Linke in Bewegung setzt, stehen normalerweise andere Orte auf dem Reiseplan der Engagierten. Berlin etwa, Frankfurt/Main oder Hamburg. Selbst in Kassel und Hannover war schon mal was los. Aber in Erfurt?

Die Ahnungslosen

Wer in der Altstadt vom Fischmarkt in Richtung Krämerbrücke abbiegt, kann die Touristeninformation nicht verfehlen. In den mit Glasvitrinen, Nippes und Stadtplänen voll gestopften Räumen weiß man Antworten auf Fragen nach Luther, der auch mal in Erfurt war, Interessantes über den Dom und die Zitadelle Petersberg. Über das viertägige Politfestival weiß man hier zwei Wochen vor dem Start nichts. „Sozialforum“, sagt die Frau hinter dem Schalter, „da müssen Sie sich mal an meine Kollegin wenden.“ Die hat immerhin schon davon gehört. „Rufen Sie doch bitte bei der zuständigen Abteilung an.“ Dort ist besetzt. Das erste Sozialforum in Deutschland ist offenbar nichts für Touristen.

Der Freiwillige

Eugen Baumann ist 41, und wenn man ihn fragt, wo er herkommt, sagt er: „Von hinterm Berg.“ Das ist jenseits des Thüringer Waldes, dort, wovon die Leute von der Landeshauptstadt nicht sehr viel halten. Außer dass man dort gut einkaufen kann. Eugen Baumann sitzt im Jugendbüro „Filler“, einer alten Baracke im Hof der Ver.di-Bezirkszentrale, wo das Organisationsbüro des Sozialforums untergekommen ist. Er war selbstständiger Fuhrunternehmer, jobbte dann in der Jugendpädagogik, und als er wieder Arbeit suchte, rief er die PDS in Erfurt an. Dort erinnerte man sich an diese Sache mit dem Sozialforum. Nun sitzt Baumann vor einer riesigen Magnetwand und schiebt bunte Schnipsel hin und her. Er kümmert sich darum, dass es beim Sozialforum nicht nur ein Programm geben wird, sondern dass die unzähligen Workshops und Diskussionsrunden auch wirklich stattfinden können, und er tut dies ehrenamtlich. Als im Filler jemand anerkennend sagt: „Eugen, wenn du so weitermachst, engagieren wir dich noch“, antwortet Baumann leise: „Ich bin doch schon engagiert.“

Der Bürgermeister

Als Manfred Ruge vor ein paar Monaten gefragt wurde, ob Erfurt das erste Sozialforum in Deutschland aufnehmen könne, hat er „relativ spontan gesagt: Das machen wir.“ Ein CDU-Oberbürgermeister, der sich für ein Bundestreffen linker Weltverbesserer einsetzt? „Man muss auch Meinungen öffentlich sagen dürfen, die sich von meinen unterscheiden.“ Ruge ist seit 1990 so etwas wie der „Mister Erfurt“. Als er mit Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus über das Treffen gesprochen hat, sagte der nur: „Manfred, was du machst, machst du. Es ist deine Sache. Es ist deine Stadt.“

Die vom Sozialforum sagen über ihren schwarzen Oberbürgermeister, dass er gern den jovialen Übervater gibt. Es schwingt auch Anerkennung mit: Ruge habe einmal „sogar“ eine Stadtratssitzung auf dem Fischmarkt organisiert und diesen von der CDU-dominierten Rat so gegen einen geplanten Naziaufmarsch demonstrieren lassen.

Es war nicht das erste Mal, dass Ruge aus Protest auf die Straße gegangen ist, und sein Entgegenkommen beim Sozialforum hat wohl auch mit seiner Biografie zu tun. In der DDR hat der heutige CDU-Landesvize einst das Neue Forum mitgegründet, das erste Büro der neuen Opposition war in Ruges Privathaus. „Das war eine Bewegung von unten“, sagt er, und so sieht sich das Sozialforum auch. „Wir haben doch 1989 auch über alles Mögliche diskutiert, wollten die Welt verändern. Aber die Wirklichkeit hat uns eingeholt.“

In dieser Wirklichkeit ist Ruge Oberbürgermeister von Erfurt und wird in zwei Wochen eine Abordnung derjenigen feierlich empfangen, die eine andere Welt weiter für möglich halten. Ob er selbst zum Sozialforum kommt? Ruge lehnt sich zurück, macht eine Pause und sagt: „Ich weiß noch nicht.“ Die Organisatoren hätten immer darauf bestanden, „nichts mit der Politik zu tun zu haben“. Ruge meint die Parteipolitik, und genau die lässt ihn zögern. „Ich will erst abwarten: Wer tritt dort noch alles auf? Wenn es Personen gibt, die ich jetzt hier nicht nenne, und die treten dort auf, gehe ich nicht hin. Nicht wegen der Personen, sondern wegen des Anspruchs des Sozialforums, frei von Parteien zu sein.“ Ob er Oskar Lafontaine meint? Ruge lacht. „Sie werden von mir keinen Namen hören.“

Die Begeisterte

Kathrin ist Ende 20, vielleicht aber auch Anfang 40. Das Alter, sagt sie, während ziemlich viele Ringe an ihr klimpern, spiele keine Rolle. Genauso wie der Name. „Es geht doch um die Botschaften, darum, was ich dir sage. Oder interessierst du dich nachher auch für meine Schuhgröße?“ Vielleicht 38, aber wer weiß das schon. Kathrin, die dann immerhin auf dem h in ihrem Namen besteht, braucht man vom Sozialforum nichts zu erzählen. „Sozialforum, das ist nicht nur ein Treffen, das ist eine Idee, das ist eine neue Bewegung von unten, die könnte vielleicht alles ändern.“ Was denn? „Die Ungerechtigkeit, die Armut, die neoliberale Globalisierung …“ Kathrin will sich „auf jeden Fall beim Sozialforum einbringen“ und hat sich im Internet schon das Programm angesehen. Im Gehen dreht sie sich noch einmal um und fragt: „Wann war das nochmal?“ In zwei Wochen. „Ach ja. Na dann, bis dann.“

Die Zielperson

Michael Schkade ist Mitte 30 und arbeitet beim Thüringer Umweltministerium. Postmaterialistisch würden ihn Soziologen nennen, liberal-aufgeklärt, politisch interessiert. Jemand, der die PDS nicht für den linken Rand der Gesellschaft hält und der bei Nachhaltigkeit nicht an ein neues Gurtsystem für Autos denkt. Schkade sitzt auf dem peniblen Rasen vor dem Ministerium und sagt: „Eigentlich müsste viel mehr passieren. Die Fachleute und die mit Visionen müssten mehr miteinander ins Gespräch kommen. Es ändert sich doch nichts, wenn die einen immer nur von der Revolution reden und die anderen sich schon an kleinen Dingen festfahren und dann irgendwann aufgeben. Da muss mehr zusammenkommen.“ Wäre da nicht eine Ideenbörse wie das Sozialforum das Richtige? Michael Schkade hat bisher nur beiläufig davon gehört. Vielleicht fährt er Ende Juli doch lieber in den Urlaub.

Die Skeptikerin

Heike Mahnert sitzt im Filler und sagt, dass es schwierig ist, ein Sozialforum auf die Beine zu stellen. Die 38-Jährige hat seit zweieinhalb Monaten beim Organisationsbüro eine halbe Stelle und findet, dass die Zeit schon zu knapp ist. „Es hat vielleicht etwas von Kassandra. Aber ein Dreivierteljahr ist hier fast gar nichts passiert. Da kommt der Frank Spieth vom DGB auf die Idee, das erste Sozialforum in Deutschland könne ja in Erfurt stattfinden, und dann wird erst einmal darüber geredet, ob es nun ‚Deutsches Sozialforum‘ heißen soll oder ‚Sozialforum in Deutschland‘. Die eigentliche Arbeit ist darüber liegen geblieben.“ Mahnerts größte Sorge ist, dass das Forum „nicht die erreicht, um die es geht, sondern nur die, die schon organisiert sind“.

Bei den Erfurtern ist das Sozialforum kaum bekannt, und Geld für größere Plakataktionen fehlt. Mahnert: „Wir sind eben nicht der Kirchentag.“ Obwohl der hier auch ganz gut gepasst hätte. Die Region gilt politisch als schwarz, und die knapp 200.000 Erfurter machen da kaum eine Ausnahme, auch wenn hier bei den Bundestagswahlen 2002 ein SPD-Kandidat gewann und die PDS bei den Landtagswahlen viele Stimmen holte.

Daran ändert auch die kleine alternative Szene wenig. Aber wenigstens gibt es so etwas wie einen linken Ruck in der Stadt. In der knappen Zeit bis zum Sozialforum sieht Mahnert noch viel zu tun. Zu viel? „Wir können froh sein, dass wir jetzt da sind, wo wir stehen. Vor fünf Wochen sah das noch ganz anders aus.“ Dann wird Kassandra noch einmal ihrem Ruf gerecht: „Mit etwas Glück wird es kein Reinfall.“

Tom Strohschneider arbeitet beim Neuen Deutschland