Umverteilung junger Geflüchteter: Suizidgefahr ist kein Argument

Rund 40 junge Geflüchtete müssen Bremen verlassen, weil man ihnen ihr Alter nicht glaubt. Der Verein Fluchtraum sendet einen Hilferuf an die Behörden.

Ein Radiologe schaut sich 2018 in Friedrichshafen im Röntgenbild die linke Hand eines 17-Jährigen an.

Wenn Geflüchteten nicht geglaubt wird: Altersfeststellung per Röntgenbild, hier in Friedrichshafen Foto: Felix Kästle/dpa

BREMEN taz | Eigentlich wenden sich vor allem Geflüchtete an den Verein Fluchtraum Bremen, der ein Beratungs- und Begegnungszentrum aufgebaut hat. Im Moment rufen aber auch täglich Lehrkräfte, The­ra­peu­t:in­nen oder Trai­ne­r:in­nen an, berichtet Hannah Dehling von Fluchtraum. Der Grund: Sie alle haben mit geflüchteten Menschen zu tun, denen es trotz häufiger psychischer Belastungen in Bremen vergleichsweise gut geht – und dennoch sollen sie die Stadt im Rahmen von Umverteilungen bald verlassen.

Darunter ist auch einer der besten Spieler von Jan-Moritz Höler, Fußballtrainer der U-19-Mannschaft beim Bremer SV. „Der ist psychisch fix und fertig“, erzählt Höler und kritisiert die scheinbar wahllose Altersfeststellung seitens der Behörden – ausgerechnet der betreffende Spieler sehe eindeutig jugendlich aus.

Fluchtraum hat sich nun mit einem Hilferuf an die Behörden gewandt. Konkret geht es um die Situation von rund 40 jungen Geflüchteten, die seit etwa einem Jahr in Bremen zur Schule gehen und sich in psychologischer Behandlung befinden.

Die jungen Menschen haben gemeinsam, dass ihr Altersverfahren negativ ausfiel, dass die Behörden also von einer Volljährigkeit ausgehen, obwohl sie selbst das verneinen. Während des Verfahrens haben Betroffene keinen Aufenthaltstitel. In der Regel kommen sie dann in ein Verteilungssystem gemäß Paragraph 15a des Au­fenthaltsgesetzes, das unter anderem besagt, dass Betroffene keinen Anspruch darauf haben, auf bestimmte Orte verteilt zu werden.

Alex Scott, Sozialpädagoge

„Dass es nicht reicht, dass jemand sich in einer akuten suizidalen Krise befindet, ist menschlich nicht nachvollziehbar“

Konkret bedeutet das, dass geflüchtete Menschen erneut alle Strukturen verlieren, die sie in Bremen aufgebaut haben und in ein Ankerzentrum irgendwo in Deutschland ziehen müssen. Viele haben Angst, von dort in Länder wie Italien zurückgeführt zu werden, wo ihnen ein aussichtsloses Asylverfahren droht.

Die Behörden haben bei diesen Entscheidungen oft einen Ermessensspielraum. Fluchtraum kritisiert, dass dieser nun trotz massiver psychischer Krisen nicht mehr zur Anwendung komme und dass derzeit sogar suizidgefährdete Menschen mit einer Umverteilung rechnen müssen.

Alex Sott hat als Sozialpädagoge und Berater im Bremer „JungenBüro“ täglich Kontakt zu Menschen, die aufgrund von langwierigen behördlichen Verfahren an ihre psychischen Grenzen kommen. Der Verein ist eine Beratungsstelle für junge Männer mit Gewalterfahrungen. Erst kürzlich habe er einem jungen Mann, den er vergangene Woche als suizidgefährdet eingestuft habe, mitteilen müssen, dass seine Beschwerde zur Altersfeststellung abgelehnt wurde.

Er fühle sich von politischen Entscheidungen allein gelassen und schäme sich für diese Art von Rechtssprechung, sagt Sott. „Dass es für die Verhinderung einer Umverteilung nicht ausreicht, dass jemand sich in einer akuten suizidalen Krise befindet, ist menschlich nicht nachvollziehbar.“ Auch in einem laufenden Verfahren müsse die psychische Lage berücksichtigt werden. Zudem bietet Bremen laut Sott für junge Geflüchtete eine zwar mangelhafte Struktur, die aber etwa durch die Unterbringung in kleineren Einrichtungen oft besser funktioniere als in anderen Städten.

Vonseiten des Sozialressorts werde keine andere Linie gefahren als zuvor, sagt hingegen ein Sprecher. Die Verfahren, die bei einem Widerspruch vor dem Oberverwaltungsgericht landen, dauerten sehr lange. „Systematisch gegen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts vorzugehen, würde uns vor Probleme stellen“, heißt es weiter. Das Innenressort, zu dem auch das Migrationsamt gehört, kann sich laut Pressestelle bis zu einer Abstimmung mit der Sozialbehörde nicht zu den Forderungen von Fluchtraum äußern.

Ein Betroffener, der mit der taz über seine Situation spricht, ist Boubacar Dialo. Er sei müde, sagt Dialo: „Es sind einfach so viele Belastungen im Moment.“ Dialo ist Schüler und bereitet sich gerade auf seine B1-Prüfung vor. Er plant – sobald sein Aufenthaltsstatus es zulässt – eine Ausbildung zum Tischler. In einem Ankerzentrum würde all das „wieder auf null gesetzt“ werden.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie da­rüber. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (☎ 0800/111 0 111, www.telefonseelsorge.de).

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