Die Wandmalereien von Les Milles

In einem Vorort von Aix-en-Provence wurden während der Nazizeit deutsche Intellektuelle interniert. Wandmalereien zeugen von ihren Qualen

Jahr für Jahr kommen tausende deutscher Touristen nach Aix-en-Provence, schlendern durch die Gassen der traditionsreichen Universitätsstadt, vorbei an munter vor sich hin plätschernden Brunnen und feudalen Stadtpalästen. Eine provenzalische Postkartenidylle – doch liegen zwischen der heiteren Atmosphäre und dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges nur wenige Kilometer. Das Grauen hat einen Namen: Les Milles.

Auf den ersten Blick ist Les Milles nur ein langweiliger, eintöniger Vorort. Ein feiner roter Staub liegt in der Luft und weist den Weg zu der am Ortsrand gelegenen Ziegelei: nicht irgendeine Ziegelei, sondern ein großräumiger Komplex mit Lagerhallen, in dem von 1939 bis 1943 bis zu 3.000 Menschen hinter Stacheldrahtzäunen interniert waren, um die „nationale Sicherheit“ zu gewährleisten.

Fast ausschließlich handelte es sich bei den Gefangenen um Deutsche, die sich in Frankreich Schutz vor dem Nazi-Terror erhofft hatten, darunter viele Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler, Maler, Musiker, Politiker und Theaterleute.

„Überall waren Trümmer und Staub von Backsteinen, selbst in dem wenigen, das man uns zu essen gab“, erinnerte sich Max Ernst an seine leidvollen Erfahrungen während der Gefangenschaft: „Wir glaubten, verdammt zu sein, Trümmer von Backsteinen zu werden.“

Der Alltag bestand nur aus Warten, aus der verzweifelten Hoffnung, den Deutschen doch noch zu entkommen. Zu Ernsts Haftgenossen zählten seine Schriftstellerkollegen Lion Feuchtwanger, Franz Hessel, Alfred Kantorowicz, Walter Benjamin, Golo Mann und Walter Hasenclever, der seinem Leben aus Angst vor der drohenden Deportation selbst ein Ende setzte.

Die Davongekommenen haben ihre Erlebnisse literarisch zu verarbeiten versucht. Feuchtwanger rechnete später mit der Verwaltung des Vichy-Regimes in „Der Teufel in Frankreich“ ab, Kantorowicz und Hasenclever bezogen in den Büchern „Exil in Frankreich“ beziehungsweise „Die Rechtlosen“ Stellung, wobei sie wiederholt die menschenunwürdigen hygienischen und psychischen Verhältnisse im Lager angeprangerten. Von mehr als 2.000 Deportierten überlebten gerade einmal 172!

Erst langsam setzte eine Aufarbeitung der Vergangenheit ein, die durch das im Sommer 2002 eröffnete Mémorial National des Milles einen adäquaten Rahmen gefunden hat. Im Zentrum der Erinnerungsstätte steht der einstige Speisesaal der Wachmannschaften, in dem in den 1970er-Jahren ein wertvoller Bilderzyklus „entdeckt“ wurde, der zweifelsohne ein Werk der in Les Milles inhaftierten deutschen Künstler ist. Der Speisesaal wurde unter Denkmalschutz gestellt.

Wer an den Arbeiten mitgewirkt hat, ist unter Kunsthistorikern umstritten. Fest steht aber, dass zu den Lagerinsassen mehr als drei Dutzend namhafte Maler und bildende Künstler gehörten. Max Ernst und Hans Bellmer kommen nicht in Frage, da sie das Lager schon verlassen konnten, bevor der Zyklus im Herbst 1940 entstand.

Die anonymen, direkt auf die Betonwände gemalten Bilder „Schlaraffenland“, „Weinlese“ und „Ernte“ – sie sind stilistisch vom Surrealismus und von der russischen Moderne geprägt – erzählen von den Entbehrungen der Haftzeit, den Träumen von Frieden und Freiheit. So tafeln bei dem Wandbild „Festessen der Völker der Erde“ ein Schwarzer, ein Italiener, ein Asiat, ein Holländer, ein Eskimo, ein Amerikaner und ein Inder in zufriedener Eintracht. RALF NESTMEYER

Das Mémorial National des Milles im ehemaligen Speisesaal in der Ziegelei ist Mo. bis Do. von 9 bis 12 Uhr und von 12.45 bis 17 Uhr sowie Fr. von 9 bis 12 Uhr und von 12.45 bis 16 Uhr geöffnet