„Der Kill-Factor ist wichtig“

Dem „Neuen Terrorismus“ reicht der bloße Schock der Opfer nicht. Al-Qaida will Tote

taz: Ist das Bekennerschreiben einer Al-Qaida-Gruppe zu den Londoner Bomben glaubhaft?

Andreas Reich: Es passt ziemlich gut in die Anschlagstaktik von al-Qaida. Denn es wurde recht wahllos vorgegangen.

Was bitte heißt hier wahllos?

Wahllos gegen Personen. Die irische IRA etwa hätte vielleicht auch die Londoner U-Bahn angegriffen – aber mit vorheriger Warnung. Es ist geradezu ein Markenzeichen von al-Kaida, dass sie nicht warnen. Das Phänomen nennt sich Neuer Terrorismus. Beim alten Terrorismus war die Tat an sich das schockierende Moment – also, dass überhaupt mitten in London eine Bombe gezündet werden kann. Den Neuen Terroristen reicht dieser Schock nicht. Die wollen eine hohe Zahl der Opfer, den „body count“. Das hat zum Beispiel auch Timothy McVeigh gesagt, der Oklahoma-Bomber aus den USA: Der „Kill-Factor“ sei sehr wichtig, um den Terroreffekt und den Schock zu haben.

Nutzt al-Qaida auch eine neue Struktur?

Es ist mehr ein Netzwerk mit kleineren terroristischen Zellen. Die planen die Aktionen und führen sie aus. Es gibt dabei nicht ein Al-Qaida-Bataillon Nummer 1, Kompanie 5.

Wie bei der IRA oder früher bei der palästinensischen PLO?

Die hatten zwar auch teilweise Zellenstruktur, weil Zellen nun mal erfolgreich waren. Die IRA hatte aber immer den Anspruch, eine Armee zu sein, in militärischen Fachbegriffen zu sprechen. Bei al-Qaida fällt das weg.

Ist der Neue Terrorismus militärisch gesehen gefährlicher?

Die Qualität ändert sich. Es geht nicht nur ein Hochhaus oder eine U-Bahn kaputt. Es kommt das Leiden hinzu für die Betroffenen und die Gesellschaft. Die Bevölkerung soll eingeschüchtert werden. Die Neuen Terroristen attackieren die freiheitliche Lebensweise der westlichen Staaten. Und das gelingt ja auch teilweise, auch wenn Tony Blair gleich nach den Anschlägen das Gegenteil gesagt hat: Es wird mehr Sicherheitsgesetze geben. Diese schränken im Allgemeinen die persönliche Freiheit ein. Und damit haben die Terroristen schon ein Teilziel erreicht.

Aber was hat der Neue Terrorismus davon?

Bei al-Qaida ist es eine sehr langfristige Strategie. Und es ist auch eine spirituelle Angelegenheit. Sie wollen kämpfen, solange der Westen sich in ihrem selbst definierten Territorium aufhält und sich ausbreitet – Stichworte sind hier die Demokratisierungstheorie der USA für den arabischen Raum oder der Angriff auf islamische Werte. Dem wollen die Terroristen entgegenwirken mit der Eindämmung von „westlicher Lebensfreiheit“. Es geht nicht darum, zu sagen: Wenn wir in London eine U-Bahn sprengen, haben wir in der nächsten Woche den Gaza-Streifen befreit. Vielmehr sollen über einen langen und schmerzhaften Weg die westlichen Entscheider zermürbt und aus dem Interessengebiet der al-Qaida herausgetrieben werden.

Al-Qaida ärgern auch Säkularismus und Atheismus. Atheisten sind in ihrem Weltbild keine Menschen.

INTERVIEW: REINER METZGER