Ausgehen und rumstehen von Zora Schiffer
: Adrenalinschub in der Wahlkabine

Von der Wahl habe ich mir nichts erwartet. Ich meine, von dem Wählengehen selbst. Den Fehler, mir das Wahllokal als besonderen Treffpunkt vorzustellen, an dem eigentlich resignierte Menschen sich endlich einmal mit agitierter Lust unterhalten, witzeln, streiten und kollektiv seufzen, den mache ich nicht mehr. Denn es ist alles viel profaner als das. Ohne davor irgendwem zu begegnen, betrete ich einen Charlottenburger Jugendclub und finde mich unversehens am Ende einer trägen Schlange. Sieben Minuten lang schaue ich auf gebeugte Rücken und schuppige Hinterköpfe, dann erlange ich den Blick auf die Wahlhelfenden an ihren Schultischen und durchsichtigen Plastikwänden, dahinter die Kabinen, und dazwischen, da stehen die Urnen. Die klobigen grauen Boxen unterscheiden sich nicht groß von uns Wählenden.

Ich hatte mich auf einen ziemlich bedeutungslosen Moment eingestellt, in dem ich ein Kreuz eben auf einem der für mich irgendwie akzeptabel erscheinenden Orte mache. Aber als ich den Zettel in der Hand halte, weiß ich plötzlich genau, was mir am wichtigsten ist. Was sonst? Ein überraschender Adrenalinschub überkommt mich. Und dann ist der Moment, in dem ich den Zettel zusammenfalte und an den Schlitz halte, einhalte, einhalte, einwerfe, doch ein euphorischer. Überrascht und beflügelt schreite ich zum Ausgang und merke, dass auch die anderen, die zur gleichen Zeit das Lokal verlassen, leichter und zielstrebiger davonlaufen, als sie gekommen sind. Woher kommt das?

Geht es etwa doch um etwas? Oder genießen wir einfach den kurzen Moment des Scheins, es könnte um was gehen? Was ist es nur? Ist es das Gefühl, partizipiert zu haben, Teil einer Gemeinschaft zu sein, gar ein lächerlicher Stolz darüber? Oder die Eigenbestätigung, die richtige Wahl getroffen zu haben, die Wahl des Herzens, oder die strategisch klügste? Oder sind wir einfach froh, es hinter uns zu haben?

Für ein paar Monate sind wir durch die Aufforderung zur Wahl, umringt von gruseligen und nichtssagenden Plakaten, Werbungen und angeblichen Debatten, Teil eines peinlichen und ungemütlichen Schauspiels geworden. Durch aggressiven Fingerzeig und willkürliche Zurufe hat man uns auf die Bühne gelockt, wo wir – erst guten Mutes, dann nervös, dann verwirrt und irgendwann nur noch genervt – trotzdem nur als Staffage rumstanden. Und obwohl das Stück selbst niemals endet, dürfen wir jetzt wenigstens wieder in das Dunkel der Zuschauerreihen eintauchen oder aufs Klo verschwinden.

Mit der Lust, noch etwas mehr einzuatmen von diesem nostalgischen Hauch kollektiver Emotionen, streife ich durch den Kiez und ende wie so oft im ZAP, meiner allerliebsten Café-Bar, wo Nachbarschaft, RentnerInnen, Alkoholfans und Wochenendtouris gemeinsam witzeln, lachen, streiten und seufzen. Die Terrasse ist fast voll. „Darf ich mich hier noch dazusetzen?“ – „Aber ganz vorsichtig, bitte!“ Die Gruppe lacht einladend. Obwohl ich ostentativ Schreibzeug auspacke und signalisiere, dass ich zum Beobachten und Abtauchen hier bin, vergeht keine Minute und mein Tischpartner stellt mir die Frage, auf die ich doch heimlich gehofft habe: „Und, auch wählen jewesen?“ – „Ja.“ Ich schmunzle und ziehe die Augenbrauen zweifelnd hoch und mein Gegenüber weiß genau, was das heißt: „Wahl … was bedeutet das schon?“. „Na, Hauptsache, et bleibt nich, wie es jetzt is.“

Als ich ein paar Stunden später die Berliner Ergebnisse sehe, stelle ich zum ersten Mal seit Langem die Bedeutungslosigkeit wieder in Frage. Weniger Blau und Schwarz, mehr Grün … Haben die vielen jungen Wählenden etwa doch ins Schauspiel eingegriffen? Um Gretas Motto zu erfüllen, reicht Wählen nicht, aber zumindest fühlt sich das nicht an wie ein Schritt in die ganz falsche Richtung: We want change, we demand change, we are the change!