Loch ins Freie

Gelungene Verbindung von Leichtigkeit und Gedankenschwere, von Banalität und Tiefe: Karin Kersten hat in dieser Saison mit „Die Aufgeregten“ den ultimativ entspannten Großstadtroman vorgelegt – erzählt aus der Westberliner Peripherie, aus Dahlem. Ein Porträt der 62-jährigen Schriftstellerin

Souverän spielt Karin Kersten mit verschiedenen Genres, wechselt ständig die Perspektive, ohne sich groß um formale Einheit zu scheren

VON MARION LÜHE

Über einen Mangel an literarischen Debütantinnen kann man sich in Deutschland wahrlich nicht beklagen. Die meisten sind zwischen 25 und 35 Jahre alt, und viele kommen von Schreibschulen oder renommierten Literaturinstituten. Karin Kersten, die mit „Die Aufgeregten“ gerade ihren Erstlingsroman vorgelegt hat, ist 1943 geboren, und eine Schreibschule hat sie nie besucht. Das sei schon eher ungewöhnlich, in ihrem Alter mit einem Roman zu debütieren, gibt sie zu. Die Vorsicht der Verlage, die erst einmal „das Fräuleinwunder abarbeiten“ müssen und sich nicht zusätzlich mit Älteren belasten wollen, kennt die Zweiundsechzigjährige nur allzu gut. Von der jugendlichen Konkurrenz unterscheidet sie nicht nur die Erfahrung, sondern auch die nüchterne Gelassenheit. Große Literatur oder gar vorsätzlich ein „Kultbuch“ zu schreiben, das sei gar nicht ihr Anspruch gewesen, sagt sie bescheiden. Unterhalb der „Spitzen“ müsse es schließlich auch noch etwas geben.

Dabei stellt ihr raffiniert gebauter Roman, der es auf den zweiten Platz der SWR-Bestenliste brachte, eine höchst gelungene Verbindung von Leichtigkeit und Gedankenschwere, von Banalem und Tiefsinnigem dar.

Die Handlung ist mit wenigen Worten erzählt. Karla Distelkamp, angehende Schriftstellerin und Besucherin eines kreativen Schreibseminars, hat mit finanzieller Unterstützung ihres Bruders im Südwesten Berlins eine alte, marode Mühle gekauft. Während sie sich wieder einmal mit Schreibhemmungen herumplagt, hat ihre Kusine Ella Hermann, die das Anwesen verwaltet, handfestere Probleme. Das Dach ist löchrig, für notwendige Reparaturen fehlt das Geld, und ein neuer Mieter muss her. Um den drohenden Ruin abzuwenden, soll Karla endlich ihre hochtrabenden literarischen Pläne aufgeben und den „Großen Groschenroman“ schreiben. Auf der Suche nach Originalschauplätzen begeben die beiden Freundinnen sich an die Stätten ihrer Kindheit und Jugend in der Lüneburger Heide. Doch schon bald ergreifen sie die Flucht aus der Provinz, wo an jeder Ecke alte Erinnerungen lauern, und kehren zurück: Karla an ihren Schreibtisch, an dem sie endlich den geldträchtigen Groschenroman verfassen wird, Ella in ihr Büro, von wo aus sie Karlas Schreibprozess streng bewacht. Rund um diese beiden älteren Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs tummeln sich diverse Bekannte mit ihren Marotten, Macken und sprechenden Namen (Tergeune, Halblang, Andermatte, Auwacki), alle jenseits der sechzig. Ferner tauchen auf: eine Leiche im Gebüsch auf dem Gelände der Freien Universität, ein Hund namens Lilli und ein mysteriöser Koffer, den eine verstorbene Mieterin hinterlassen hat.

Souverän spielt Karin Kersten mit verschiedenen Genres vom Kriminal- bis zum Trivialroman, wechselt ständig die Perspektive, mischt Einlassungen des auktorialen Erzählers in den Bewusstseinsstrom der Figuren, ohne sich scheinbar auch nur im Geringsten um formale Einheit zu scheren. Die klassische, geschlossene Romanform entspreche einfach nicht dem modernen Lebensgefühl, meint sie achselzuckend.

Was den Roman bei allen Abschweifungen zusammenhalte, sei die aufgeregte Grundhaltung seiner Figuren, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer wieder eingefahrenen Bahnen verließen, Neues ausprobierten. Und so räsonnieren die wilden Damen munter vor sich hin: über Alter und Krankheit, Jugend und Tod, gute und schlechte Literatur, über Geld und andere Alltagssorgen. Und über Süchte. Das sei auch so eines ihrer Lieblingsthemen, sagt sie und zündet sich noch eine Zigarette an. Ursprünglich sollte das Buch „Ins Freie“ heißen, aber dann stellte sich heraus, dass der Titel schon vergeben war, und so habe man sich schließlich für „Die Aufgeregten“ entscheiden. Mit dem vom Verlag vorgeschlagenen Untertitel dagegen habe sie sich zunächst etwas schwer getan. „Ein Großstadtroman“. Denkt man da nicht sofort an Döblins „Berlin Alexanderplatz“? Weckt das nicht unweigerlich falsche Erwartungen? Zwar spielt das Geschehen am Rande der Metropole, von hektischem urbanen Treiben findet sich indes keine Spur. Beschaulich, beinahe idyllisch mutet – trotz der Leiche im Gebüsch – das Leben in der Dahlemer Peripherie an, wo die Autorin selbst seit vielen Jahren wohnt. Aber genau darin, erklärt sie heiter, liegt vielleicht die ironische Pointe.

Nach Berlin kam die gebürtige Braunschweigerin Mitte der Sechzigerjahre. Zusammen mit anderen folgte die Studentin der Komparatistik ihrem Professor Peter Szondi, der aus Göttingen einen Ruf an die Freie Universität erhielt. Es war die Anfangszeit der Studentenrevolte, und Kersten, die sich selbst als „klassische Achtundsechzigerin“ bezeichnet, war von der ersten Stunde an mit dabei. Wenn sie davon erzählt, beginnen ihre Augen hinter der Goldrandbrille kampfeslustig zu leuchten. Da stand sie im Röckchen, frisch aus Göttingen eingetroffen, an den Straßenbarrikaden und ließ sich von einem galanten jungen Mann über die Absperrung helfen, denn „das tat man damals noch“.

Obwohl sie eigentlich gar nicht der Typ sei, der herumschreie, und sich anfangs ziemlich überwinden musste, seien die Sechzigerjahre für sie persönlich wie auch historisch eine wichtige Zeit der Befreiung gewesen. Manchmal müsse man eben Krach machen, um gehört zu werden. Für die neuerdings in Mode gekommene Achtundsechziger-Schelte hat sie kein Verständnis. Die Jüngeren, die heute mit der ehemaligen Studentengeneration abrechneten, machten sich überhaupt keine Vorstellung davon, wie man damals „unter der Glocke der Adenauer-Ära geächzt hat. Die haben die Früchte geerntet, und jetzt hauen sie nach Kräften drauf.“

Schon während ihres Studiums der Vergleichenden Literaturwissenschaft arbeitete Kersten als Übersetzerin: Anspruchsvolles wie Virginia Woolf, Doris Lessing oder Djuna Barnes, aber auch Krimis, Steinzeitromane und Hörspiele, sozusagen „fürs Brot“. Das tägliche Übersetzen, das ihr mitunter nicht mehr als einen Stundenlohn von eine Mark vierzig einbrachte, das stete Bemühen, einem Autor gerecht zu werden, hätten sie vollkommen ausgelaugt. Zwar veröffentlichte sie ab und zu Gedichte, etwa in der Zeitschrift Akzente, allerdings nur „um dranzubleiben“. Für das Schreiben blieb kaum Zeit, und nach einem anstrengenden Arbeitstag habe sie abends nicht mehr zu Feder gegriffen, sondern allenfalls zur Fernbedienung. Eine passionierte Übersetzerin sei sie nie gewesen, auf ihren eigenen Schreibstil habe sich der professionelle Umgang mit Sprache nicht ausgewirkt.

Eher schon hat das Studium bei Peter Szondi seine Spuren hinterlassen, die genaue Lektüre von literarischen Werken, der minutiöse Textvergleich: „Da hat man jedes Wort ans andere gehalten.“ Bis heute empfindet sie einen „tiefen Respekt vor dem Text“ und beschreibt sich selbst als „penible Spracharbeiterin“, die zwar schnell über alles Mögliche schreiben kann, das Geschriebene aber in einem langwierigen Prozess immer wieder umformt.

Ihre Liebe zur Sprache scheint in jeder Zeile der „Aufgeregten“ durch, wie auch die norddeutsche, pathosresistente Wesensart. Ähnlich wie ihre Hauptfigur empfindet sie offenkundig „nicht die geringste Neigung, sich private Dinge von der Seele zu schreiben“, und die großen Gefühle liegen ihr als Stoff nicht. Permanent verstößt sie in ihrem Roman gegen die Verbote, mit denen man ihre „Schriftstellerin sine spe“ Karla in der Schreibschule traktiert: „Du sollst nicht räsonnieren“, „Du sollst keine besonders originellen Namen verwenden“ oder „Du sollst nicht ununterbrochen witzig sein“. Von strengen poetologischen Regeln hält Karin Kersten nicht viel, obwohl es schon erstaunlich sei, wie diese jungen Absolventen von Schreibseminaren ihr Handwerk beherrschten und worüber die alles schreiben könnten. Sie selbst hält sich lieber an das Naheliegende, die eigene Alltagserfahrung, die unmittelbare Umgebung, den kleinen Raum. Was sie an ihrem Roman als modern empfindet, sind die Figuren, mit denen man sich – auch in jüngeren Jahren – identifizieren kann, die sich ständig hinterfragen und immer wieder aus festgefahrenen Strukturen ausbrechen. „Das ist etwas, was auch noch ganz alte Leute können, sogar noch mit neunzig“, lacht sie und wirkt dabei kein bisschen abgeklärt.

Karin Kersten: „Die Aufgeregten. Ein Großstadtroman“. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2005, 270 Seiten, 22 €