Ungewollt viral

Ein Hamburger Kunstprojekt wirft einen kritischen Blick aufs digitale Leben – und wird dank eines Missverständnisses ein Internet-Hit

Reden über die Isolation: Im Video tauschen sich junge Menschen über das Leben im Lockdown aus Foto: Pool by Yovo! Yovo!

Von Alexandra Hilpert

Eigentlich wollten Martin Prinoth und Martina Mahlknecht der Ökonomie der Aufmerksamkeit ja gerade entkommen: mit Videos, die sich kritisch mit sozialen Medien auseinandersetzen. Just die riefen nun aber Nut­ze­r:in­nen der Plattform Tiktok bis zu hunderttausendfach ab. Entstanden sind die Clips im Rahmen einer Videoinstallation, „Hack me Baby“ ist sie betitelt und noch bis zum Wochenende im Foyer der Hamburger Kunstfabrik Kampnagel zu sehen. „Wir wollten uns mit Schule in Zeiten von Corona befassen“, sagt Mahlknecht. „Was hat die Isolation mit den Jugendlichen gemacht?“

Dafür rekrutierten die beiden acht junge Menschen aus ihrem weiteren Bekanntenkreis. In dem dokumentarisch anmutenden Video brechen sie nachts in ein Klassenzimmer ein und sprechen darüber, wie die Lockdown-bedingte Begrenzung auf den digitalen Raum ihr Leben veränderte. „Uns war wichtig, die Jugendlichen selbst zu Wort kommen zu lassen“, sagt Prinoth. „Wir wollen uns mit dem Projekt sozusagen in den gesellschaftlichen Diskurs einhacken.“

Um auf die Installation hinzuweisen, posteten das Künst­le­r:in­nen­duo und der Veranstaltungsort Anfang September Ausschnitte auf Facebook und Instagram. Darin stellen sich die Jugendlichen anhand ihrer Faceboook-Profile vor – allerdings mit vertauschten Identitäten: Eine junge Frau, deren Eltern aus Hongkong stammen, stellt sich zum Beispiel als junger Ghanaer vor: „Meine Pronomen sind he/him“, sagt sie etwa. „Wir wollten zeigen, wie austauschbar und anonym Identitäten im Netz sind“, so Prinoth. Auf Instagram und Facebook, in der „Kampnagel-Bubble“, sei die Sache auf gute Resonanz gestoßen.

Zwei Wochen später erschien der Clip dann auch auf dem Videoportal Tiktok, das in Deutschland fast eine Million aktive Nut­ze­r:in­nen hat, die meisten unter 25 Jahren. Ein entscheidender Nachteil dort, so Prinoth: Tiktok erlaube es nur begrenzt, Links zu setzen. „Dadurch geht der Kontext völlig verloren.“

Und das hatte Auswirkungen auf die Rezeption der kurzen Video-Auszüge. „Sogar die Verwirrung ist verwirrt“: Dieser Online-Kommentar fasste die Stimmung gut zusammen. Kaum jemand hatte verstanden, dass die Prot­ago­nis­t:in­nen gerade nicht sich selbst präsentierten. „Jemand entschuldigte sich in der Schule bei einer Protagonistin, sie mit falschen Pronomen angesprochen zu haben“, erzählt Mahlknecht. Aber manche Kommentare seien auch schlicht rassistisch gewesen – nach dem Motto: Deine Eltern kommen aus Ghana? So siehst du gar nicht aus!

„Auf Tiktok wollten sich viele nicht die Mühe machen, den Kontext zu erfassen“, sagt Prinoth. Und doch generierten die insgesamt acht kurzen Videos innerhalb weniger Tage mehr als eine Million Aufrufe. Die beteiligten Jugendlichen haben selbst kein Tiktok. Als sie – zum Teil von Freun­d:in­nen – von ihrer Berühmtheit erfuhren, löste das gegensätzliche Gefühle aus. „Weder wir noch die Jugendlichen wussten zunächst, wie wir damit umgehen sollen“, sagt Mahlknecht. Auf der einen Seite habe es eine „gewisse Magie“, so an Präsenz zu gewinnen. Auf der anderen Seite wurden die Videos aber zumeist fehlinterpretiert. Nach sechs Tagen schließlich beschloss man, den Content zu löschen. „Für unser Projekt war Tiktok einfach die falsche Plattform“, schlussfolgert Mahlknecht. Auf Instagram sind die Videoschnipsel weiter verfügbar – mit Link zum Projekt.

„Hack me Baby“: Fr, 1.10., und Sa, 2. 10., ab 17 Uhr, Hamburg, Kampnagel-Foyer