Der große Sprung nach vorn

VIERTELFINALE Gegen die ultradefensiven Engländer begeistern die Italiener mit Offensivfußball. Auch Trainer Prandelli ist angetan vom forschen Auftritt seines Teams. Englands Coach Hodgson hadert mit dem Schicksal

„Kann gut sein, dass wir gegen Deutschland noch besser spielen“

ITALIENS TRAINER PRANDELLI

AUS KIEW ANDREAS RÜTTENAUER

Stolz war der italienische Trainer nach diesem Spiel. Er fand seine Mannschaft einfach toll. Und recht hatte er. Dass seine Spieler immer weiter angerannt sind, dass sie 120 Minuten lang versucht haben, die konzentriert und beinahe ohne jeden Fehler agierende englische Abwehr zu überwinden, auszuspielen, ein Tor zu erzielen, hätte er vielleicht selbst so nicht erwartet. Als er hört, wie oft die Italiener auf das Tor geschossen haben, staunt er: „35-mal? Das kommt mir echt viel vor.“

Er sieht sich und seine Arbeit damit bestätigt. „Darauf haben wir zwei Jahre lang hingearbeitet“, sagte er. „Dass wir ein Ergebnis halten können, das war schon immer so. Wir wollten zeigen, dass wir auch Fußball spielen können.“ Fußball spielen, Fußball spielen, Fußball spielen. Prandelli war regelrecht besoffen vom Auftritt seines Teams. Er hat den Italienern endlich, endlich, endlich das Fußballspielen beigebracht. Das ist für ihn die eigentliche Sensation. Das Halbfinale bei einer EM zu erreichen, okay, das ist auch nicht schlecht. Aber dass Italiener Fußball spielen können, das fand er einfach irre. Und klar, es gehöre auch Glück dazu, wenn man im Elfmeterschießen gewinnt, aber: „Der Sieg war verdient.“

Das Spiel, das Andrea Pirlo ebenso sicher wie beim Titelgewinn 2006 aus dem defensiven Mittelfeld heraus mit mehr als 100 Pässen, die er an den Mann bringen konnte, aufgezogen hat, hätte schwieriger nicht sein können für die Italiener. Die Engländer haben sich ganz auf ihre Verteidigung konzentriert. Mehr als drei Spieler schickten sie auch bei den seltenen Kontern nicht nach vorne, um hinten gegen die Italiener immer in Überzahl zu sein. Und doch gelang es der italienischen Mannschaft mit Geduld, mit einem auffällig inspiriert spielenden Riccardo Montolivo und dem zwar bisweilen unglücklichen, aber endlich in die Mannschaft integrierten Stürmer Mario Balotelli immer wieder zum Abschluss zu kommen. Auch als die Stimmung aus dem Stadion zu weichen begann, weil sich immer mehr die Gewissheit breitmachte, dass wohl kein Tor in diesem Spiel fallen würde, machten die Italiener einfach weiter. Hat man so etwas schon gesehen? Selten.

Aber genau so stellt sich Prandelli den neuen italienischen Fußball vor. „Kann gut sein, dass wir gegen Deutschland noch besser spielen.“ Denn auch wenn die Deutschen für ihn die Favoriten sind, vor allem weil sie zwei Tage mehr zur Vorbereitung haben, er will seine Kicker wieder mitspielen lassen. Dabei ist gar nicht so klar, wen er überhaupt aufbieten kann. Der rechte Verteidiger Ignazio Abate und Mittelfeldspieler Daniele de Rossi haben die aufreibende Partie mit Muskelverletzungen vorzeitig beenden müssen. Giorgio Chiellini war schon vorher verletzt und der eingewechselte Christian Maggio ist nach seiner zweiten Gelben Karte gegen Deutschland gesperrt. Gehen den Italienern die Verteidiger aus? Holt sie der Wettskandal zum Ende des Turniers doch noch ein? Mit Domenico Criscito musste ein Abwehrspieler aus dem Kader genommen werden, nachdem bekannt wurde, dass wegen möglicher Manipulationen gegen ihn ermittelt wird. „Darüber wollen wir heute nicht reden“, sagte Prandelli nach der Begegnung und forderte die Pressevertreter auf, sich zurückzuhalten. „Je schneller wir hier fertig sind, desto mehr Zeit haben wir, um uns zu erholen.“

Und während Prandelli das sagte, schlichen die ersten englischen Spieler zum Mannschaftsbus. Roy Hodgson, ihr Trainer, sagte: „Wie so oft verlassen wir ein Turnier ungeschlagen.“ Am Ende sei passiert, was immer passiere. England und das Elfmeterschießen. Zur Lösung des Rätsel, warum ausgerechnet die Engländer mit ihrer Penalty-Geschichte so agiert haben, als wäre es ihr einziges Ziel an diesem Abend, das Elfmeterschießen zu erreichen, wollte Hodgson nicht beitragen. Gar nicht wahr, meinte Hodgson. Er wollte nicht zugeben, dass die Italiener die verdienten Sieger waren. Er fand das Ganze irgendwie ungerecht. Armes, wieder einmal allein vom Schicksal geschlagenes England! Er war ziemlich allein mit seiner Meinung in dieser Kiewer Nacht.