Im Land der toten Dörfer

Das Wendland verödet: Häuser stehen leer, es gibt nirgends Arbeit, die Menschen ziehen weg. Zudem soll nun der Landkreis Lüchow-Dannenberg aufgelöst und in eine Samtgemeinde umgewandelt werden – was die Verödung beschleunigen dürfte

„Hier kann man inzwischen stundenlang auf der Fahrbahn stehen, ohne einer Menschenseele zu begegnen“

von Elke Schneefuß

„Haut bloß ab“ – diese ursprünglich an Castor-Befürworter gerichtete Aufforderung ziert als Graffiti ein paar Bäume an der Landstraße. Von hier geht es tiefer in den Südosten des Wendlandes: grüne Steppe, schön anzusehen, aber menschenfrei.

Den Ratschlag zur Flucht aus dieser abgeschiedenen Ecke der Welt nehmen sich offenbar immer mehr Menschen zu Herzen. Auch solche, die hier geboren wurden und eigentlich bleiben wollten, kehren ihrer Heimat den Rücken. Was zurückbleibt, sind leere Fenster, tote Höfe, die große Ebbe. Zum Beispiel in Trabuhn, ein Dörfchen etwas abseits der Landstraße L 248, in der Mitte zwischen Lüchow und Salzwedel. „Hier kann man inzwischen stundenlang auf der Fahrbahn stehen, ohne einer Menschenseele zu begegnen“, sagt Hartmut Müller, der in Trabuhn aufgewachsen ist, mittlerweile aber in Lüneburg lebt und arbeitet. „Die Kulisse meiner Kindheit gibt‘s nicht mehr.“

Damals, in den 1950er und 60er Jahren, war Trabuhn ein lebendiges Bauerndorf unter vielen im Wendland, mit einer funktionierenden Dorfgemeinschaft und einer eigenen, bescheidenen Infrastruktur. Kleingewerbe, Handwerker und Landwirte hatten hier ihr Auskommen, damals, lange vor der Wende – sogar an der Braunkohleförderung hat man sich in Trabuhn versucht. Doch die war nicht rentabel und machte bald wieder dicht.

Heute ist in der ansonsten leerstehenden Dorfkneipe noch alle vierzehn Tage Disco. Und bebaute Grundstücke mit beachtlichen 700 Quadratmetern werden teilweise für knapp 50.000 Euro angeboten – trotzdem will sie keiner haben.

In den siebziger und achtziger Jahren füllte im Wendland noch der Zuzug der Großstädter die Lücken. Von Großstadtstress geplagt, suchten Berliner und Hamburger sich Resthöfe im Grünen, um sie mit ihren Vorstellungen von der Idylle auf dem Lande zu füllen. Auch dieser Traum ist tot. Heute kommen sie kaum noch – und wenn, dann höchstens für ein Wochenende.

„Wer sich hier etwas kauft, trifft eine Entscheidung fürs Leben, denn das Grundstück wird er nicht wieder los,“ sagt deshalb auch Gudrun Grasmann, die in Clenze arbeitet, aber in einem eigenen Landhaus lebt. Auch ihre noch im Elternhaus lebenden Kinder werden wohl die Heimat verlassen: „Meine Tochter wohnt und arbeitet schon in der Nähe von Hamburg. Sie würde gern zurückkommen, sie findet hier aber garantiert keinen Job.“

Wer sich in dieser einsamen Ecke der Welt noch aus eigener Kraft über Wasser halten kann, ist oft als selbstständiger Miniunternehmer tätig oder pendelt jeden Tag, nach Wolfsburg zu VW zum Beispiel, und bis dahin sind es fast 100 Kilometer. Strapaziöse Asphaltreiterei oder von Hartz IV geprägte Arbeitslosigkeit sind die Wahlmöglichkeiten für die meisten, die der Scholle treu bleiben wollen.

Ein paar Kilometer weiter in Lüchow sieht es auf den ersten Blick noch besser aus. Eine belebte Fußgängerzone um das Rathaus herum, romantisches Fachwerk, Blumenkübel vor den Läden. Erst in den Nebenstraßen holt den Besucher das Bild vom Verfall deutscher Lebenswelten wieder ein: Leere Wohnungen, abblätternde Farbe an den Fensterkreuzen, vernagelte Türen – und überall die Einladung an den Betrachter: Zu verkaufen.

„Probleme hatte die Region mit ihrer Randlage schon immer, auch zu DDR-Zeiten. Aber es ist schlimmer geworden,“ sagt Britta Meyer, die als Personalrätin beim Landkreis in Lüchow-Dannenberg aktiv ist. Das Wendland als Wendeopfer? Sechzehn Jahre nach dem Mauerfall scheint es fast so. Belege der Stärkung ländlicher Räume, die Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff so gern im Mund führt, sind jedenfalls kaum auszumachen – wie auch, das Land spart, wo es kann. Da ist es Essig mit der Regionalförderung: „Auf die Kommunen werden immer mehr Aufgaben runtergedrückt, aber für ihre Erledigung ist kein Geld da“, erklärt Britta Meyer.

Im Gegenteil: Weil die Verschuldung der Gemeinden und Städte zum Teil gigantische Ausmaße hat, werden immer mehr Einrichtungen dichtgemacht: Schwimmbäder, Jugendzentren und Bücherhallen schließen, das Kreiskrankenhaus wurde an einen privaten Betreiber verkauft. Jeder Arbeitsplatz, der hier verschwindet, wiegt doppelt schwer – und ausgerechnet in dieser Situation sollen auch der Landkreis und einige Samtgemeinden, mit insgesamt über 800 Beschäftigten große Arbeitgeber in der Region, heftig abmagern oder ganz von der Landkarte verschwinden: Die geplante Strukturreform soll vor allem die Personalkosten drastisch senken und würde einen Abbau von über 260 Stellen bedeuten (siehe Kasten).

„Viele werden vermutlich in den Vorruhestand oder die Altersteilzeit geschickt, aber das rechnet sich für die Betroffenen erst ab einer bestimmten Besoldungsgruppe“, sagt Personalrätin Britta Meyer, die täglich mit den Zukunftssorgen der Kollegen vor Ort zu tun bekommt. Die Jüngeren, die noch kündbaren Angestellten, werden das Wendland verlassen, davon ist sie überzeugt – der Exodus überzieht die Aussicht auf die Zukunft mit einem Grauschleier. Dass etwas passieren muss, sieht Britta Meyer allerdings auch: 125 Millionen Euro Schulden lasten auf dem Landkreis und das Haushaltsdefizit beträgt rund 20 Millionen Euro.

Doch was sie vermisst, sind tragfähige Konzepte: „Keiner weiß, wie es hier weitergehen soll“, sagt Holger Mertins, Personalrat in der Samtgemeinde Clenze. Mertins hat schon mal der Arbeit wegen sein ganzes Leben umgeschmissen: Als die Firma SKF in Lüchow, die Kugellager produziert, in schweres Fahrwasser geriet, ging er in den öffentlichen Dienst. Jetzt, zehn Jahre später, kriselt es auch hier. Mertins will seine Heimat nicht verlassen: „Im Umkreis von 100 Kilometern ist der Arbeitsmarkt sowieso tot“, sagt er.

Bleiben um jeden Preis, fest verwurzelt mit der eigenen Vergangenheit am gewohnten Platz: Eigenschaften, die man ursprünglich allen Wendländern nachsagte. Jetzt jedoch gerät die Beharrlichkeit ins Wanken unter dem Druck, den die Arbeitslosigkeit erzeugt. Viele gehen. Und „die Bevölkerung ist überaltert“, sagt Harald Stein, der als selbstständiger Handelsvertreter vor zehn Jahren aus Buchholz in der Nordheide ins Wendland zog – der Landschaft wegen, die mit Vielfalt lockt.

„Wir werden das Altenheim der Nation“, sagt auch Britta Meyer, eine Wendländerin, die nicht aufgeben will, was sie hier vorgefunden hat. Ihre Sorge gilt der nächsten Generation: „Das Umfeld dünnt aus. Die Infrastruktur wird immer blasser.“

Im Wendland ist derzeit wenig Platz für Visionen. Und doch wollen die Menschen hier nicht nur Pessimismus spüren: „Ich bin gern hier. Nirgends sonst kann das Leben so geruhsam sein“, meint Britta Meyer. Wer einmal dort war wird verstehen, was sie empfindet.