berliner szenen
: Gefühl des besonderen Augenblicks

Das erste Dia aus der Box Berlin I zeigt eine geritzte Zeichnung des Funkturms und die Jahreszahl 1961. Es folgen: Ansichten des Turms, SFB-Gebäude, Ostpreußenhalle, Berlin von oben, aufgenommen von der Siegessäule. Die Fichten im Tiergarten sind klein wie Weihnachtsbäume, der Reichstag noch Ruine.

Die Dias stammen aus einer Haushaltsauflösung. N. hat sie vor dem Haus aus einem Müllcontainer gefischt. Die Aufnahmen sind übersät mit roten Punkten, als hätten sie die Masern. Die zweite Box enthält Bilder vom Mauerbau, aufgenommen nur wenige Schritte entfernt in der Bernauer Straße im Sommer 61. Ein Dia zeigt das Denkmal für Ida Siekmann, dahinter die zugemauerten Fenster und verbarrikadierten Hauseingänge. Auf einer Aufnahme ragt das Hosenbein des Fotografen ins Bild, ein Schild markiert das Ende des französischen Sektors. Auf einem anderen steht: „Straßensperrung verursacht durch die Schandmauer“. Auf eine Hauswand hat jemand mit weißer Farbe „Denkt an Eichmann“ geschrieben. Wir haben das Gefühl eines besonderen Augenblicks, in dem sich unsere Gegenwart mit der des Zeitzeugen und der Geschichte der Stadt zu verbinden scheint.

Anders verhält es sich bei den Fotografien aus dem Familienurlaub in Tirol oder bei den Nacktaufnahmen aus dem ehelichen Schlafzimmer. Der Blick ins Private ruft Scham hervor, die sich mit kulturwissenschaftlichen Fragen über das Geschlechterverhältnis, die Mode und den Einsatz der Technik verscheuchen lässt. Nach der dezent, aber selbstbewusst posierenden Frau erscheint der sonst hinter der Kamera agierende Mann mit leicht erigiertem Geschlecht lebensgroß auf der Wand über N.s Schreibtisch, und N. stellt erfreut fest: Ich glaube, die beiden bewegen sich auf einem Level. Sascha Josuweit