DIE EM AUS ITALIENISCHER SICHT
: 90 Minuten Leid

ALESSANDRO ALVIANI

Behalten die professionellen Kaffeesatzleser doch recht? Italien werde die EM gewinnen, hatten sie im Vorfeld des Turniers prognostiziert und gleich eine lange Liste vermeintlich guter Vorzeichen geliefert: Unser Fußball wird erneut von einem Wettskandal erschüttert – so wie vor der WM 2006, bei der gli azzurri das Wunder von Berlin feierten. Und die letzten drei Testspiele vor der EM hatten wir zwar verloren, aber bei einem „echten“ Spiel hat uns unter Trainer Cesare Prandelli noch niemand besiegt.

Stimmt alles, würde man nach der Vorrunde sagen. Nur: Es ist alles Beschwörung, scaramanzia. Und ich halte nichts von Aberglauben. Sicherheitshalber ziehe ich aber für die Spiele der Nazionale wieder dasselbe blaue Trikot an, das ich 2006 zum Halbfinale und Finale trug. Man weiß ja nie. Bei der WM 2010 hatte ich es im Schrank gelassen, und siehe da: Italien flog umgehend aus dem Turnier. Aus dem gleichen Grund werde ich das Viertelfinale in dem italienischen Bistro in Friedrichshain gucken, wo ich am vergangenen Montag das 2:0 gegen Irland erlebte. Seitdem ist sie meine neue Lieblings-Fußballkneipe.

So ist der Fußball jenseits der Alpen: Eine Mischung aus tiefer Leidenschaft und noch tieferen abergläubischen Ritualen – plus eine guten Prise Verschwörungstheorien und endlose Diskussionen. Alles zusammengemischt ergibt eine Religion, die zwar nach den wiederholten Skandalen der letzten Jahre viele Gläubige verloren hat, aber immer noch Millionen Anhänger zählt. Warum sonst hat Italien keine einzige Boulevardzeitung, dafür aber drei überregionale Sportblätter? Eines davon, La Gazzetta dello Sport, verkauft sich besser als manche Qualitätszeitung hier in Deutschland. Am ersten Tag meines Studiums in Perugia fragte der Dekan, wie viele Studenten an jenem Vormittag eine Tageszeitung gekauft hätten. Im proppevollen Audimax wurden Dutzende rosafarbene Gazzette hochgehoben, ich war der einzige, der eine klassische Qualitätszeitung in den Händen hielt (was ein unangenehmes Lob des Professors und einen noch unangenehmeren Beifall des Saales nach sich zog). Wohlgemerkt: Wir waren alle angehende Kommunikationswissenschaftler.

Dieser Vorfall sollte nicht verwundern – Italien ist ein Land von 60 Millionen Fußballtrainern. Jeder weiß es besser als der Kollege, der Nachbar und selbstverständlich besser als Prandelli. Es war immer so, und ich fürchte, es wird so bleiben. Genauso wie die Sprunghaftigkeit der Nationalmannschaft, die mich seit jeher zur Verzweiflung bringt.

Bei den Spielen der azzurri sind die Regeln von vornherein klar: Man muss ständig bangen. Es gibt nie ein glattes 3:0, sondern ein einziges 90-Minuten-Leiden. Dieses Jahr ist es nicht besser geworden. Italien kann starke Mannschaften wie Deutschland besiegen, aber sich gegen schwächere blamieren, wie bei der WM 2010, als wir in der Vorrundengruppe mit Paraguay, Neuseeland und der Slowakei ausschieden. Zum Glück treffen wir am Sonntag auf England. Wären wir der Ukraine begegnet, ich hätte mir echte Sorgen gemacht.