Tiergarten, Hyde Park, Roter Platz: Gute Vibes

Für Afrika und gegen das schlechte Gewissen – Live 8 war das größte Konzert der Popgeschichte. Aus den geplanten sechs Stunden werden mehr als zehn. Die Armut der Dritten Welt bleibt in Berlin eine rührend ferne Unbekannte

BERLIN taz ■ Eine blonde Frau im roten Kleid schreitet über den Pariser Platz in Berlin, und der Krieg bricht aus. Fotografen, Kameramänner rangeln um das beste Bild. Zusammen mit Herbert Grönemeyer, Bischof Wolfgang Huber und Kardinal Georg Sterzinsky soll Claudia Schiffer das Plakat „Deine Stimme gegen Armut“ unterschreiben. Hilflos stehen die Organisatoren in weißen T-Shirts daneben. Die Meute ignoriert die besänftigende Rufe. „Unglaublich“, schimpft Grönemeyer. Die religiösen Führer stehen am Rande. Claudia Schiffer gibt Interviews. Einer schreit: „Wie soll es denn so Frieden geben?“ Am aufgedrehtesten aber sind die Passanten. Ein abfälliger Kommentar über Schiffers Haut, gleichzeitig Frappuccino in der Linken, Handykamera in der Rechten – so funktioniert Live 8, das ein Spektakel der westlichen Prominenz ist.

Nachdem im letzten Herbst das vierteilige DVD-Set „20 Jahre Live Aid“ im „hochwertigen Schuber“ auf den Markt gekommen war, kündigte der irische Musiker und Organisator Sir Bob Geldof (“I don’t like mondays“) an: „Wir wollen nicht dein Geld – wir wollen deine Stimme.“ Acht Konzerte auf vier Kontinenten sollen an diesem 2. Juli Druck auf die Staatschefs der G 8 ausüben. Schuldenerlass, Verdoppelung der Entwicklungshilfe auf 50 Milliarden Dollar, eine Neuordnung des Welthandels, alles zugunsten Afrikas. Ob das gelingt, zeigt sich, wenn am Mittwoch im schottischen Gleneagles der Gipfel beginnt. Den Rang des größten Konzerts der Popgeschichte ist der Veranstaltung vom Samstag schon sicher. Zwei Millionen Menschen vor Ort, drei Milliarden am Fernseher.

„Das ist eine politische Demonstration“, ruft Tote-Hosen-Frontmann Campino von der Berliner Bühne. 200.000 Menschen sind auf die Straße des 17. Juni gekommen. „Fair trade“- neben „Nutten, Koks & Haarlack“-Shirts. Am Straßenrand AOL-Zelte, die PDS verteilt Wahlwerbung. Bier vom Fass fließt reichlich. Es ist ein bisschen wie die Love Parade, die dies Jahr abgesagt ist: Gedränge auf den schlammigen Wegen des Tiergartens, die Erschöpften kampieren auf den Wiesen. „Ficken für Afrika“, schreit ein Betrunkener. Von Protesten der Tiergarten-Schützer, die der Techno-Parade in den letzten Jahren das Leben schwer gemacht hatten, ist nichts zu hören.

Musikalisch ist das von Marek Lieberberg organisierte Konzert nicht so schlecht wie im Vorfeld beschrieben. Peter Maffay hatte abgesagt. Brian Wilson rührt mit „Good Vibrations“. Brian Ferry tanzt im Anzug, und der kluge Mitsing-Musiker Herbert Grönemeyer gibt noch nach Mitternacht Zugaben. Aus den ursprünglich sechs Stunden werden mehr als zehn. Moderatorin Anne Will wirkt in den langen Umbaupausen hilflos, aber zum Glück gibt es ja Schalten um die Welt. Robbie Williams tanzt durch das Publikum im Londoner Hyde Park. Mariah Carey singt mit dunkelhäutigem Kinderchor, die wiedervereinigten Pink Floyd „Wish you were here“. Paris Hilton lächelt unter einem rosa Cowboyhut hervor. Madonna kommt ganz in Weiß. Die Pet Shop Boys auf dem Roten Platz in Moskau, The Cure in Paris, Destiny’s Child in Philadelphia – Live 8 zieht seine Faszination aus der Globalität.

Es eint das Großereignis und lockt das Versprechen Nelson Mandelas, das immer wieder über die Leinwände läuft: „Sometimes it falls upon a generation to be great. You can be that great generation.“ Afrika bleibt dabei eine rührend ferne Unbekannte.

Hierzulande lenkt das Spektakel des guten Gewissens für einen Moment ab „von der Nabelschau, mit der Deutschland zur Zeit beschäftigt ist“, wie Grönemeyer sagt. In der überfüllten Berliner S-Bahn singen die nach Hause Fahrenden spät in der Nacht: „Oh, it’s such a perfect day.“ HENNING KOBER