berliner szenen
: Der belauschte Wehvater

Einige Dutzend Prenzlberger Sonnenhungrige drängeln sich auf dem vereisten Windmühlenberg. Es herrscht die Libertinage alpiner Höhenluft. Abstandsregeln gelten nicht und auch nicht die Regeln des guten Geschmacks.

Ein Typ und seine Begleiterin mit Kinderkarre tigern im Kreis, seine Stimme schallt über den Platz, Entkommen unmöglich. Wir hören, dass er an einem Buch arbeitet oder vielmehr an seiner Konzeption. Etwas zwischen Daniil Charms und Ernst Jandl schwebt ihm vor. Das macht uns neugierig.

Es stellt sich heraus: Wir haben es mit keinem Dichter zu tun, sondern mit einer männlichen Hebamme, einem Geburtshelfer also. Nach 400 absolvierten Geburten möchte er seine Erfahrungen teilen, was wir sofort verstehen.

Bloß trocken soll es nicht sein und auf keinen Fall belehrend. Seine Begleitung ist ganz Ohr und wir sowieso. Die Phasen der Geburt möchte der Charms der Wehväter weniger medizinisch dröge und mehr humoristisch und mit Alltagsbezug vermitteln, sodass jeder und vor allem jede ein klares Bild bekommt. Was läge da näher, als den Blasensprung mit einem kaputten Fahrradschlauch zu vergleichen oder die Bewegung des Fötus im Geburtskanal mit dem Vorgang der Defäkation?

Darunter kann sich doch wirklich jeder was vorstellen. Wir jedenfalls wären sofort bereit zu subskribieren, aber der Autor ist noch nicht fertig.

Anekdotisches soll die launigen Beschreibungen auflockern. Die Geschichte eines Bekannten etwa, der im Vollrausch die eigene von der Mutter im Einweckglas konservierte Plazenta verspeist. Und was ließe sich nicht alles über den fantasievollen Umgang mit der Nabelschnur zum Besten geben.

Ganz ehrlich? Wir wollen es dann doch nicht wissen.

Sascha Josuweit