berliner szenen
: Manchmal klang es wie „Raus!“

Die Mütze schützte überraschend gut. Aber es war auch nicht wirklich kalt und der Weg war kürzer als erwartet. Die Geräusche im Pflegeheim waren mir vertraut – da und dort Gemurmel, eine zarte alte Frau im Rollstuhl auf dem Flur rief leiernd immer wieder „Hilfe“. Sie lächelte, als sie mich sah. Ich sagte: „Gleich kommt bestimmt jemand.“

M.’s Zimmergenosse lag halb nackt in seinem Bett und machte ab und an Geräusche. Vor den Fenstergardinen standen Tulpen in einer Vase. Dahinter Regen. Einen Tag zuvor war ich in M.’s Wohnung gewesen, um seinen Handyakku zu suchen. Wahrscheinlich würde er seine Wohnung nie mehr sehen. Ich stellte drei Bilder neben die Vase, weil auf M.’s Nachttisch kein Platz mehr war. Mit schwacher Stimme begrüßte mich der alte Freund. Wir hatten uns zuletzt vor vier Wochen beim Schachspielen in seiner Wohnung gesehen. Er sah besser aus, als ich befürchtet hatte. Ich klammerte mich an das bisschen Reströte auf seinen Wangen. Es war nicht einfach, ihm in eine angenehmere Liegesitzposition zu helfen. Wir sprachen von Freunden. Wie immer fragte er, ob ich etwas geschrieben hätte. Ich erzählte von der Szene mit dem Schachgrandprix und dass GM Hikaru gewonnen hatte. Und dass die eine Moderatorin nicht nur Schach- sondern auch Backstreams sendet. Dann wusste ich nichts mehr.

Im Hintergrund Berliner Rundfunk mit Hits aus den 60ern, 70ern und 80ern. M. ging die Playlist auf den Geist. Ab und an machte der Zimmernachbar Geräusche. Manchmal klang es wie „Raus!“ Dann kam das Abendbrot. Wie meine Mutter früher forderte er mich auf, ihm beim Essen behilflich zu sein: Du musst aber wenigstens zwei Drittel essen. Ich aß eine Scheibe Brot und versprach, bald wiederzukommen. Am nächsten Tag war M. positiv. Einen Tag später ich auch. Detlef Kuhlbrodt