Verlierer und Verirrte

Von der Weltgeschichte wie Kartoffelsäcke einfach abgeladen: Richard Swartz erzählt Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas

Europa, das ist, wenn sich ein paar Ministerpräsidenten vor wehenden Flaggen die Hände schütteln und anschließend zum Gruppenfoto aufstellen. Europa, das sind Verträge und Abkommen, Wahlen und Währungen. Europa, das ist Straßburg und Brüssel, Rom und Paris, Berlin und London. Oder war da noch was? Richard Swartz interessiert sich nicht für die erhebenden historischen Momente und glitzernden Metropolen (West-)Europas, sondern für die Schattenseiten des Kontinents, für verlassene Dörfer irgendwo in der österreichischen Provinz, für die dreckigen Studentenheime Prags und die heruntergekommenen Villenviertel Wiens. Auf seinen Reisen begibt sich der schwedische Journalist, der sich mit seinen unter dem Titel „Room Service“ erschienenen Geschichten aus dem Nahen Osten auch in Deutschland einen Namen gemacht hat, abermals in das „finstere Herz Europas“, dort, wo kaum je ein Politiker sich hinverirrt.

Was Swartz’ Geschichten, die stets zwischen Reportage und persönlichem Bericht changieren, auch in diesem neuen Buch auszeichnet, ist seine Vorliebe für skurrile Figuren. Da ist etwa der kleine und graue Herr Kralik, ein Sudetendeutscher, der in einem kleinen Ort nahe der Grenze zu Böhmen einen Fotoladen betreibt, dessen Schaufenster er mit Bildern längst vergangener böhmischer Ereignisse dekoriert hat. In einem Soldaten der Roten Armee, der sein Heimweh im Suff ertränkt, findet er einen Verbündeten.

Jenseits aller nationalen wie politischen Differenzen fühlen sich die ungleichen Freunde, die hier in der oberösterreichischen Provinz „von der Weltgeschichte wie zwei Säcke mit Kohle oder Kartoffeln abgeladen“ worden sind, durch ihr Heimweh verbunden. Da ist der alte, schwer kranke Kantor Ernster aus Siebenbürgen, der hartnäckig an seiner „verdrängten und begrabenen Sprache“ festhält, auch wenn ihn keiner mehr versteht.

Oder der ehemalige böhmische Prinz, der in einer Wiener Kellerwohnung sein trübes Dasein fristet. Vollkommen abgebrannt ist er und hat sich dennoch seinen aristokratischen Standesdünkel wie auch die schlechte Gewohnheit, zum Frühstück fette Würstchen zu essen, gleichsam als „archäologische Reste einer besseren Vergangenheit“, bewahrt. In beiläufig unpathetischem Ton zeichnet Swartz das Schicksal dieser sozial Deklassierten und Heimatlosen nach, die auf ihre armselige Weise versuchen, den Lauf der Weltgeschichte zurückzudrehen oder diese nachträglich zu verbessern.

In einer Geschichte wirft er den Blick über die Grenzen Europas. In einem Prager Studentenheim teilt er sich eine Wohnung mit afrikanischen Studenten, sehr zum Ärger seiner tschechischen Kommilitonen. Denen bleibt vollkommen unverständlich, „warum ich mich freiwillig unter all das Schwarze gemischt hatte, das auf all das blendend Weiße an mir abfärbte, dieses Schwarze, das sie selber meiden wollten, das aber durch mich nun auch auf sie abfärbte“.

Lakonisch beschreibt Swartz den mehr oder weniger offenen, alltäglichen Rassismus der Prager Bevölkerung, aber auch die verschämte Neugier, mit der sich Schwarze und Weiße begegnen. Staunend betrachtet Alicia, eine schwarze Mitstudentin, seine weißen behaarten Beine und atmet seinen fremden Duft ein, während er sich Fantasien macht über den Körper, der sich unter dem Batikkleid verbirgt.

Näher kommen sie sich trotz aller Emanzipationsbestrebungen, die er ihr nahe zu legen versucht, nicht. Zu groß ist Alicias Angst vor ihren schwarzen Freunden, die bei einer Frau nicht dulden würden, was sie sich selbst doch Nacht für Nacht gestatten. Bei aller Annäherung stoßen da zwei unterschiedliche Welten aufeinander – mitten in Europa. MARION LÜHE

Richard Swartz: „Adressbuch. Geschichten aus dem finsteren Herzen Europas“. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Hanser Verlag, München 2005, 200 Seiten, 17,90 Euro