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Ein Bienenkorb steht für ein fleißiges Leben

Am Stadtrand von Lübeck liegt der größte jüdische Friedhof Schleswig-Holsteins. Die Steine erzählen viel über jüdische Kultur und Geschichte Norddeutschlands

Birgt Gräber vom 18. Jahrhundert bis heute. Schleswig-Holsteins größter jüdischer Friedhof in Lübeck- Moisling Foto: Christian Charisius/dpa

Von Friederike Grabitz

Sie hatten im Konzentrationslager die Hölle überlebt – und starben auf dem Weg in ein besseres Leben. Bei der Rettungsaktion „Weiße Busse“ holte das Schwedische Rote Kreuz im März 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, 15.000 meist norwegische und dänische Häftlinge aus Konzentrationslagern nach Skandinavien – eine Sonderabsprache mit SS-Chef Heinrich Himmler. Eine Gruppe Häftlinge aus dem KZ Bergen-Belsen musste in Lübeck Pause machen, weil sie zu erschöpft für die Weiterfahrt war. Viele von ihnen starben in einem Lübecker Krankenhaus.

Sie sind in 80 Gräbern auf dem jüdischen Friedhof Lübeck-Moisling beerdigt. Die Messingschilder auf den Steinstelen zieren oben der Davidsstern, die hebräischen Schriftzeichen für „Hier ruht“ und unter dem Namen tragen alle dasselbe Todesjahr: 1945.

Drei Gräber in der hintersten Reihe stammen von 1947. „EXODUS – Kind ohne Namen“ steht auf den Steinen. Hier wurden Neugeborene begraben, die in einem KZ in der Nähe Lübecks zur Welt kamen. Mit dem Dampfer „Exodus“ hatten die britischen Alliierten nach Palästina fliehende Juden – nach Protesten der dortigen arabischen Bevölkerung – gewaltsam nach Deutschland zurückgebracht. Sie zwangen sie in DP-Camps, aus denen sie allerdings wegen öffentlicher Proteste bald freigelassen wurden.

Leonid Kogan erzählt auf dem Friedhof Moisling die Geschichten der Grabsteine. Er ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Lübeck und veranstaltet Führungen über den größten jüdischen Friedhof in Schleswig-Holstein. Kogan stammt aus der Ukraine und habe sich schon dort für die Geschichte jüdischer Friedhöfe interessiert, erzählt er.

Er zeigt einen Gedenkstein für die jüdischen Holocaust-Opfer. Im hinteren Teil des Friedhofs liegen Gräber aus dem 18. Jahrhundert gleich neben neuen Grabsteinen: „Die letzte Bestattung war im Januar“, sagt er. Nur noch wenige Grabstellen sind frei. Heute lassen sich viele Juden auf einem zentraleren Friedhof bestatten, wo die Gemeinde ein Grundstück bekommen hat. Hier dürfen sie, anders als auf dem jüdischen Friedhof, in der Nähe nichtjüdischer Familienmitglieder beerdigt werden.

Wenn alle Grabstätten belegt sind, muss ein jüdischer Friedhof erweitert oder geschlossen werden, denn anders als auf christlichen Friedhöfen ist die Totenruhe hier unbegrenzt. Kogan erklärt die jüdischen Bestattungsregeln: Verstorbene werden gewaschen, in ein weißes Tuch eingeschlagen und innerhalb von 24 Stunden in einem Sarg in der Erde bestattet. Nur am Samstag – dem Schabbat, vergleichbar dem christlichen Sonntag – finden keine Beerdigungen statt, dann darf auch niemand den Friedhof besuchen.

Er weist auf seine Kappe: Jüdische Männer sollten hier eine Kopfbedeckung tragen. Beim Verlassen waschen sich Besucher die Hände. Und weil die meisten Juden am liebsten in Palästina bestattet wären, „zeigen alle Gräber mit den Füßen nach Osten“.

Auffällig ist, dass auf den Gräbern keine Blumen liegen, dafür aber teils kleine Kieselsteine. „Blumen vergehen, Steine nicht“, erklärt Kogan. Nur steinerne Blumen sind üblich. Die älteren Grabinschriften lassen sich nur mit Hebräisch-Kenntnissen lesen, sogar die Daten orientieren sich am jüdischen Kalender.

Dabei erzählen die Inschriften aus dem 18. Jahrhundert oft so einiges über das Leben der Verstorbenen. Ein Grab vom Juni 1762 verkündet in hebräischen Buchstaben: „Hier ruht die würdige, tugendhafte, geschätzte Frau Ranche, Tochter des Ruben aus Lübeck, Gattin des Vorstehers Ariel, gestorben und begraben am 20. Siwan 5522.“

Im Nebeneinander der Jahrhunderte lassen sich Bestattungsmoden besichtigen. Die ältesten Grabsteine enthalten nur Schrift, später kamen Ornamente und Symbole hinzu wie Löwen, Tauben und Adler, die sich auf jüdische Familiennamen beziehen. Auf einem Frauengrab liegt ein Krug: Sie gehörte zum Stamm der Leviten, die im Tempel dem Priester zur Hand gingen.

Eine gespreizte Hand wiederum verweist auf einen Rabbiner, ein Bienenkorb steht für ein fleißiges Leben, abgeknickte Bäume oder Blumen für einen zu frühen Tod. Im 19. Jahrhundert wurden viele Grabsteine doppelt beschriftet – mit Namen und Lebensdaten in lateinischer Schrift auf der Rückseite. Seit dem 20. Jahrhundert gibt es nur noch vereinzelt hebräische Schrift und neben den Sandsteintafeln auch Grabsteine aus schwarzem Granit.

Kogan zeigt zwei dieser schwarzen Grabsteine, die in der Nähe der Backsteinkapelle aus einem Blütenteppich von Blausternen ragen. Die Steine in Form von Gesetzestafeln zeigen in Goldprägung die Namen „Rosalie Mühsam“ und „Siegfried Seligman Mühsam“: die Eltern des Autors und Anarchisten Erich Mühsam. Er wuchs in Lübeck auf, wurde 1934 von SS-Leuten ermordet und in Berlin begraben.

Auch die Eltern des von den Nazis ermordeten Autors Erich Mühsam sind hier begraben

Nur wenige Meter davor stehen vier große, zum Teil mit Flechten bewachsene Grabsteine. Sie gehören zur berühmten Lübecker Rabbinerfamilie Carlebach. Der Rabbiner, Autor und Politiker Salomon Carlebach war Vater unter anderem von Joseph Carlebach, der 1941 nicht seine Hamburger Gemeinde verlassen wollte und sich mit ins Lager Jungfernhof bei Riga deportieren ließ. Nach dessen Räumung 1942 wurde er mit seiner Frau und drei seiner Töchter dort ermordet.

Der älteste der etwa 1.000 Grabsteine in Moisling stammt von 1733, gegründet wurde der Friedhof aber schon 80 Jahre früher, zur Zeit des 30-jährigen Krieges. Damals waren die Menschen zu arm, um sich gemeißelte Grabsteine leisten zu können, und bestatteten ihre Toten mit Grabmalen aus Holz, die heute längst verrottet sind.

Dass der Friedhof umgeben von Hochhäusern in dem Wohnviertel Moisling am Stadtrand liegt, ist kein Zufall. Um 1650 durften Juden nicht in der Stadt Lübeck leben, weil sie noch keine Bürgerrechte hatten. Also ließen sich einige jüdische Familien, die vor Pogromen in Polen geflohen waren, in Moisling nieder, wo die jüdische Gemeinde mehrere Jahrzehnte lang ihr Zentrum hatte. „Um 1820 stellten die 400 Juden sogar die Hälfte der Bevölkerung“, sagt Kogan.

Erst 1848 durften sie sich in der Stadt ansiedeln und verlegten ihr Zentrum dorthin. Den Friedhof in Moisling nutzten sie noch lange weiter. Nach einer Chronik des Rabbiners Alexander Winter überstand er auch die NS-Zeit, anders als andere jüdische Friedhöfe. Infolge langwieriger Rechtsstreitigkeiten bekam die jüdische Gemeinde den Friedhof erst 1960 zurück.

2016 störten allerdings Unbekannte die Totenruhe: Sie warfen Grabsteine um, einige zerbrachen dabei. Diese Schäden sind nun, zusammen mit den Lebensgeschichten der Bestatteten, steinerne Zeitzeugen.