Grenzverträge scheitern an Nationalisten

Streit um EU-Außengrenzen: Moskau stoppt Vertrag mit Estland, lettische Nationalisten gegen russischen Grenzvertrag

STOCKHOLM taz ■ Die Regierung Russlands hat den bereits unterzeichneten Grenzvertrag mit Estland für hinfällig erklärt. „Sie sind selbst schuld“, sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow am Montag bei einem Staatsbesuch in Helsinki zur Begründung: „Es war von vornherein ausdrücklich vereinbart, dass es keine Zusatzerklärungen geben sollte. Will Estland nun ein Grenzabkommen haben, muss neu verhandelt werden.“

Dabei schien alles klar, als Estland und Russland am 18. Mai den Vertrag unterzeichneten. In ihm werden die Grenzen zu Russland, wie sie bei der Selbstständigkeitserklärung Estlands faktisch bestanden hatten, als endgültig anerkannt. Der Vertrag lag seit zehn Jahren fertig ausgehandelt vor, doch hatte Moskau ihn zwischenzeitlich auf Eis gelegt.

Doch als das Parlament in Tallinn vergangene Woche den Vertrag ratifizierte, setzten nationalistische Abgeordnete aus fünf Fraktionen eine Präambel durch. Darin wird auf zwei 15 Jahre alte Resolutionen verwiesen, in denen das Parlament die „sowjetische Aggression“ und die „illegale Eingliederung“ Estlands in die Sowjetunion verurteilt hatte.

Verstanden werden sollte dies als indirekter Verweis auf eine andere Grenzregelung mit Russland: die des Friedensabkommens von Dorpat 1920. Im jetzigen Abkommen verzichtet Tallinn nämlich auf zwei Gebiete von rund 2.000 Quadratkilometern im Petseri-Gebiet und nördlich des Peipuusees, die damals zu Estland gehörten. Moskau legt diesen Verweis nun als verdeckten Gebietsanspruch aus.

Genau deshalb hatte der estnischer Außenminister Urmas Paet bei der Ratifizierungsdebatte im Parlament von Tallinn die Abgeordneten vergeblich gewarnt. Er warf den nationalistischen Parteien vor, aus kurzfristigen wahltaktischen Gründen das Konfliktthema Grenze wach halten zu wollen, zumal Estlands Verfassung sowieso einen Hinweis auf die Grenzen von 1920 enthalte. Dieser sei von Russland auch stillschweigend akzeptiert worden.

Mit dem gescheiterten Vertrag ist die EU damit nicht nur im Falle Estlands, sondern auch Lettlands nach wie vor ohne völkerrechtlich festgeschriebene Außengrenze. Denn in Lettland blockierte eine nationalistische Mehrheit im Parlament bislang die Unterzeichnung eines Grenzvertrags mit Russland.

Im Falle Lettlands geht der Streit um ein Gebiet von 1.300 Quadratkilometern. Das wurde im Friedensvertrag von 1920 den baltischen Staaten zugeschlagen, ging in der Folge des Zweiten Weltkriegs aber wieder an Russland. Auch hier will Moskau ein Zusatzprotokoll mit Verweis auf diese alte Grenzziehung nicht akzeptieren. Dies umso mehr, als einige Parteien bereits angekündigt haben, anschließend die Forderung nach Reparationen für die sowjetische Okkupationszeit zu erheben.

Lettlands Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga hat dieses Taktieren von Regierung wie Parlament offen kritisiert. Zuletzt sagte sie in der vergangenen Woche in einer Rede vor der Saeima: Es sei ein großer Fehler gewesen, den am 10. Mai unterschriftsreifen Vertrag mit der Forderung nach Zusatzabkommen zur Makulatur gemacht zu haben. Offenbar sei vielen PolitikerInnen die Rücksicht auf Wählerstimmen wichtiger als der Ruf Lettlands in Europa. Denn Extremismus und Ultrapatriotismus könnten dem Land teuer zu stehen kommen.

Vike-Freiberga appellierte an Parlament und Regierung, die jetzige Blockade zu überwinden und die historische Gelegenheit, ein Abkommen mit Moskau treffen zu können, nicht verstreichen zu lassen. Eine Änderung der bestehenden Grenzen sei sowieso nicht realistisch. Ganz ähnlich hatte im Nachbarland ihr estnischer Amtskollege Arnold Rüütel argumentiert.

Zwischen Litauen und Russland wurde ein Grenzabkommen schon vor einigen Jahren geschlossen. Dabei hat Litauen auch kein Interesse daran, allzu lang in die Vergangenheit zurückzugehen und dort nach historisch „günstigeren“ Grenzen zu suchen. Denn das würde auf Kosten der Hauptstadt Vilnius gehen. Denn die war 1922 polnisch geworden und wurde erst infolge der sowjetischen Okkupation 1944 wieder litauische Hauptstadt. REINHARD WOLFF