berliner szenen
: Kein gutes Ende für die Taube

Es ist noch früh am Morgen, und wir stehen vor der Tür der Arztpraxis in diesem stadtbekannten Hochhauskomplex. Du musst vorbei an der Ecke, wo sich die Fixer den Schuss setzen; einen sah ich mal dort vor dem Fenster eines Geschäfts liegen. Ich ging rein und meinte: Da stirbt einer. Der Verkäufer meinte: „Den kenn ick.“

Touristen aus aller Welt sehnen sich nach diesem Ort; Sterben, wo andere Urlaub machen. Die Polizei wird hier eine eigene Wache bekommen. Die Vernichtung wartet auch diesmal in diesem schmalen Gang. Eine Taube torkelt umher. Was mag sie nur haben? Als sie sich umdreht, sieht man, dass ihr die Schwanzfedern fehlen, dort klafft ein knallrotes, ein blutiges Loch. Die anderen Tauben schwärmen durch die Luft, diese hier nicht. Nun sitzt sie ruhig. Das tut sie auch nach meinem Arztbesuch („Also das hier ist jetzt okay, aber das da sollten Sie mal checken“) noch. Aber sie hat Gesellschaft bekommen. Eine Krähe schaut sich erst vom Dach, dann vom Boden aus an, was hier los ist. Was tun, der Biologie ihren Lauf lassen? Das Tierheim anrufen? In die Natur pfuschen, von der es hier so viel nicht gibt? Wenn wir das hier stören, wird sie vielleicht jemand anderes killen.

Nun hackt sie der Taube mit dem Schnabel immer wieder in das Loch, beginnt sie bei lebendigem Leib aufzufressen, langsam und von hinten. Die Taube kämpft, springt immer wieder außer Reichweite. Die Krähe so: hüpft immer wieder mal eine Runde, schaut nach allen Seiten, ob da wer kommt und stört oder ob sonst was los ist. Dann hackt sie wieder rein.

Im Hof nebenan stand ein Baum, da brütete ein Taubenpärchen, als die Krähe kam. Sie machte sich über die Taubenkinder her. Die Eltern hatten es zur Kenntnis zu nehmen. Und auch heute nimmt es keinen guten Lauf für die Taube. Für die Krähe schon. Jürgen Kiontke