Wunderfee mit Killerinstinkt

„Repairgirl“ näht Träume zusammen und zerstört Illusionen – eine zeitgemäß ambivalente Figur. Das gleichnamige „Undergroundmusical“ von Anne Retzlaff im Theaterdiscounter ist die Neuauflage einer Produktion der Choreografin

Auf der Bühne steht ein Mädchen mit Maske und Muskelshirt. Sie tanzt zu den Elektrobeats, die der Mann neben ihr aus seinem Synthesizer quetscht – Diskofox zu kühlem Achtzigerjahre-Sound. Die Tänzerin quält vorzüglich das Parkett, lässt Hüften kreisen, Beine schwingen, Schultern shaken. Sie ist die Queen of Dance, und John Travolta wäre stolz auf sie. Es geht um „derbe Discotrance“, so will es das Programmheft. Dort, wo sich Körper und Tanzboden reiben, sprühen Funken. Es ist wahr – selten war Disko schöner.

„Repairgirl“, choreografiert von Anne Retzlaff, feierte am Samstag im Theaterdiscounter Premiere. „Repairgirl“ ist das Mädchen, das Träume zusammennäht, das verloren gegangene Fäden wieder aufnimmt und die Löcher stopft in der brüchig gewordenen Imagination. Doch „Repairgirl“ ist keine Wunderfee, die hilft und heilt, sondern zerstört eher Illusionen. Ganz zeitgemäß ambivalent also diese Figur, mit der Anne Retzlaff im April erstmals zeitgenössischen Tanz in den Theaterdiscounter brachte.

Die Absolventin der Dresdener Palucca-Schule arbeitet als freie Choreografin und Musikerin in Berlin. Am TIF/Staatsschauspiel Dresden brachte die 29-Jährige eigene Stücke zur Aufführung und wurde mit ihrem Achtungserfolg „most“ zu den Tanztagen Berlin und der „euro-scene“ Leipzig, der wichtigsten deutschen Tanzplattform für junge Choreografen, eingeladen. Sie choreografierte Musikclips für „2raumwohnung“ und den Tanzfilm „White Wedding“. Bei der abendfüllenden Neuauflage von „Repairgirl“ präsentiert Retzlaff drei Stücke mit Liveband, zwei Soli und ein Trio und nennt das Ganze „Undergroundmusical“.

Warum, wird nicht klar, denn eine Verbindung zwischen den einzelnen Segmenten ist nicht so recht zu erkennen. Soll es hier, in Abgrenzung von den grotesk-kommerziellen Musicalgroßproduktionen mit Flitter und Firlefanz, nun weder Erzählung noch dramaturgischen Zusammenhang geben? Oder heißt „Underground“, dass man sowieso alles macht, worauf man Lust hat, und sich um Kanon und Charakter nicht schert?

Wie dem auch sei – zum Billig-Chic des Theaterdiscounters, der in der ehemaligen Packhalle des alten Telegrafenamts in Mitte residiert – mit ausrangierten Klappstuhlsitzbänken, Drinks ab 1,49 Euro und vielen „frischen“ Stücken in schnell produzierten und schnell gespielten Uraufführungen –, passt der Look der kargen Inszenierung. In dem Tanzsolo von Anne Retzlaff passiert zunächst kaum etwas, die Tänzerin mit sexy Goldpumps und schwarzer Reisetasche macht kleine Schritte, wankt vor und zurück, spürt staunend ihren minimalen, hochpräzisen Bewegungen nach. Orientierungslos ist sie und ihre Reise gefährlich, die Ankunft ungewiss. Zuletzt liegt sie hinter einem Bretterverschlag, mit Zeitungen zugedeckt, eine Obdachlose.

Wild wird es zum Schluss noch mal, bei der „Tanzshow“ mit der Liveband „Sissimetall“, in der Anne Retzlaff auch singt. Retzlaff, Anna-Luise Recke und Martin Moeller drehen, wirbeln, hüpfen und robben über den Boden. „Sissimetall“ rockt dazu. Man weiß, wo man ist: in der Berliner Off-Kultur. JANA SITTNICK

„Repairgirl“, bis 28. Juni, 20 Uhr, Theaterdiscounter, Monbijoustr.1, Tel. 44 04 85 61