In der Traumkolonie

Der Schlaf des Verblendungszusammenhangs gebiert Schwanz-wasch-Maschinen. In seinen „Traumprotokollen“ wollte Theodor W. Adorno einen Teil seines Geistes überleben lassen

VON MICHAEL RUTSCHKY

Oft soll er hingerichtet werden, mit Vorliebe gekreuzigt. Ende Mai 1945 in Los Angeles beispielsweise – die Kreuzigung findet aber an der Bockenheimer Warte statt (es geht zugleich um Heimweh). Am 1. August 1944 will man ihn in Wasser kochen wie ein Schwein (so heißt es). Erneute Kreuzigung am 25. Juni 1957; ein Freund rät sachkundig zu vorbereitenden Freiübungen, um Krämpfe und Verspannungen zu vermeiden. Ende Dezember 1959 wird er enthauptet, mit der Guillotine – zu seiner Verblüffung lebt er jenseits des Körpers, auch des Kopfes weiter, als reiner Geist, der sich den anderen in keiner Weise mehr mitteilen kann.

Oft rechnet er selber zu den Henkern. Ende März 1944 hat er das Kommando über eine Massenhinrichtung von Nazis; als die Prozedur stockt, will man zu Eispickeln oder Spitzhacken greifen, was ihn entsetzt aufwachen lässt. Demgegenüber beobachtet er am 14. Juli 1944 die Massenhinrichtung nackter junger Männer – unklar, ob sie Faschisten oder Antifaschisten sind – mit Neugier. Sie sind metallgrün wie ihre eigenen Bronzeplastiken, und die Guillotine funktioniert nach dem Prinzip des Self Service: Man legt sich ohne Henker darunter und verliert den Kopf – was ihn mit einer Erektion erwachen lässt. Hier darf der schöne nackte Knabe nicht fehlen, der ihm am 14. März 1948 übereignet wird, damit er ihn nach Belieben foltere. Er ohrfeigt den Jungen, küsst ihn, schlägt ihn auf den Hintern und die Hoden, bis der nach einem Monokel greift und es sich ins Auge klemmt.

Mit den Mädchen und den Frauen geht es ebenso kurios zu. Am 10. Januar 1943 trifft er im Bordell auf eine, die ganz aus Glas ist oder vielmehr dem durchsichtigen Kunststoff, aus dem seine neuen Hosenträger bestehen. Zum Nacherzählen eignet sich glänzend die Schwanz-wasch-Maschine, zu deren Anschaffung ihm am 17. Dezember 1967 seine unbeschreiblich schöne und elegante Geliebte rät: Dann werde sie ihn regelmäßig mit dem Munde beglücken – ob sie womöglich als Vertreterin im Dienste der Herstellerfirma steht? „Lachend aufgewacht.“ Und hierher gehört unweigerlich das Gespräch, das er Ende November 1942 mit seiner Freundin X über deren erotische Kunstfertigkeit führt. Als ihre Spezialität preist sie ihm Babamüll an – ihre eingehende Schilderung macht daraus eine komplizierte und illegale Finanztransaktion, und er ist ganz verzweifelt, weil immer undeutlicher wird, was er sich unter Babamüll als Schweinkram vorstellen darf.

Theodor W. Adorno hat regelmäßig seine Träume protokolliert, gleich nach dem Erwachen, wobei ihn offensichtlich nicht Sigmund Freud anleitete, vielmehr der Surrealismus. So gut wie jeder Hinweis, wie der Traum mittels der Psychoanalyse zu verstehen wäre, fehlt; opak und bizarr (und oft schreiend komisch) steht der Text da und will als Gast aus einem Paralleluniversum respektiert sein, ein Alien inmitten der Diskurse des Wachlebens. Solche Aliens herbeizuzaubern war der Zweck aller surrealistischen Operationen; Adorno selbst zitierte Kafka, wie dessen Erzählungen ein eigenes Universum hervorbringen, Babamüll könnte sich mit Odradek vergesellschaften.

Als Alien stehen die „Traumprotokolle“ jetzt aber auch inmitten von Adornos anderen Schriften. Die ausgeklügelte und durchkonstruierte Maschinerie seiner kritischen Theorie (die mit den Jahren immer deutlicher an das Gerät aus Kafkas „Strafkolonie“ erinnert), sie trifft an keiner Stelle auch nur die Oberfläche von Adornos Träumen. Nirgendwo will der universale Verblendungszusammenhang, der Rückschlag der Aufklärung in Mythos, das Verstelltsein aller befreienden Praxis andocken.

Das muss ihm, den die ungeheure Apparatur seiner Intelligenz und Bildung vermutlich in einem Zustand von Dauererregung, ja -qual hielt, richtig Spaß gemacht haben, die Träume aufschreiben und sie vor jener Apparatur quasi sekretieren; opak und ohne zu kommunizieren sollte ein Teil seines Geistes überleben. Er wollte aus den Protokollen ein Buch machen.

Leider ist es nicht das, welches vorliegt. Adornos Texte füllen die Seiten 7 bis 87; von Seite 91 bis Seite 120 gibt Jan Philipp Reemtsma in seinem Nachwort kluge, wohlinformierte und – wie soll ich sagen – verlegene Hinweise, wie das alles zu verstehen sein könnte. Auf Seite 88 f versucht eine editorische Nachbemerkung in leicht feierlichem Ton über die verworrenen Verhältnisse aufzuklären.

Adorno hinterließ, wenn ich richtig verstanden habe, als Typoskript eine Sequenz von Texten, die er für publizierbar hielt. Daraus hat Rolf Tiedemann im Band 20 der „Gesammelten Schriften“ eine Auswahl veröffentlicht. Hinzu kamen Abschriften, die Gretel Adorno nach Adornos Notizbüchern verfertigt hat. „Der vorliegende Band ergänzt die bereits publizierten Traumprotokolle um die im Typoskript überlieferten Abschriften.“ Was soll dieser Futzelklamauk? Warum kriegen wir nicht einfach einen vollständigen, postumen Band „Traumprotokolle“, der genau neben die Bibliothek-Suhrkamp-Ausgabe der „Minima Moralia“ passt?

Das grüne Lesebändchen macht die Sache auch nicht besser.

Theodor W. Adorno: „Traumprotokolle“. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005