Auf Verstand gebaut

Die Berliner Architektenkammer präsentiert in ihrem aktuellen Jahrbuch lauter Berliner Bauten, aber keinen Berliner Stil. Durchgesetzt hat sich allenfalls ein neuer Realismus – was die Finanzierbarkeit betrifft

von TINA HÜTTL

„Berlin im Boom und Hoppla, was kostet die Welt“ – das ist Vergangenheit, hält das Jahrbuch Architektur Berlin 05 nüchtern fest. Dass dies nicht unbedingt ein Verlust bedeuten muss und auch nicht in eine neue architektonische Tristesse mündet – diesen Beweis treten die 68 ausgewählten Bauten im Buch gleichzeitig mit an. Das von der Architektenkammer Berlin herausgegebene Jahrbuch erscheint bereits zum vierten Mal. Es ist eine Dokumentation und Bilanzierung von Architektur in und aus Berlin – kann aber gleichzeitig als Stadtführer gelesen werden: Viele der darin vertretenen Berliner Bauten sind heute und morgen am „Tag der Architektur“ zu besichtigen.

Einen roten Faden, gar eine „Berlinische“ oder „Berliner Architektur“ sucht man in den von einem international besetzten Gremium ausgewählten Arbeiten aber vergeblich. Vom Umbau eines zweigeschossigen, grauen Plattenbaus in Hohenschönhausen in ein lichtdurchflutetes, funktionales Reihenendhaus mit Lärchenholzverschalung bis hin zum u-förmigen Büroneubau der Bundesärztekammer mit schiefergrüner Natursteinfassade findet sich alles in diesem schönen Katalog.

Wenn es überhaupt so etwas wie einen Trend gibt, dann heißt der: Realismus. Was nicht unbedingt stilistisch und formal, sondern mehr finanziell zu verstehen ist. Das Berliner Bauen des Jahres 2004 – und nur in dem Jahr fertig gestellte Projekte wurden berücksichtigt – vollzog sich, so der summarische Befund architekturkritischer Stimmen, weg von den „großmächtigen Prätentionen der 90er-Jahre“. Der Chef der 7.000 Mitglieder zählenden Berliner Architektenkammer interpretiert das so: „Das Verhältnis von Kosten und Leistung zählt wieder.“ Jörn-Peter Schmidt-Thomsen denkt dabei vor allem an den Schweizer Architekten Peter Zumthor und dessen Entwurf für die Topographie des Terrors sowie an das Tempodrom. Bei beiden Projekten waren die Kosten explodiert.

Es ist aber keine neue bauliche Bescheidenheit, sondern vielmehr der Hang zur Selbstdisziplinierung, der die jüngst entstandene Architektur auszeichnet. Das zeigt sich auch daran, dass das Umbauen, Erweitern und Restaurieren – also das „Bauen im Bestand“ – boomt. Nicht die eigene Handschrift des Architekten dominiert, sondern das behutsame Spiel mit der vorhandenen Bausubstanz und den historischen Materialien. Gleich zwölf Projekte stellt der Katalog in dieser Kategorie vor: Da wurde das backsteinerne Schiff der leer stehenden Eliaskirche zum Kinder- und Jugendmuseum. Das Hauptgebäude der TU bekommt nach fast 40 Jahren eine futuristisch anmutende Glaskuppel aufgesetzt – der Lichthof verdient seinen Namen wieder. Und aus dem um 1900 erbauten Marstall am Schlossplatz schuf das Architekturbüro „Anderhalten“ Proberäume für die Musikhochschule Hanns Eisler. Im stützenfreien Raum des ehemaligen Schlossflügels ist nun der Orchesterprobensaal untergebracht, die Pferdeboxen im Spreeflügel verwandelten sich in über 100 Proberäume auf drei Galerieebenen.

Aufgrund des begrenzten Budgets verzichtete der Senat als Bauherr auf den Einbau von standardierten Akustiksystemen. Als Schallreflektor oder Absorberelemente dienen Kalotten, Wandelemente, die an den Stirnseiten der Säle angebracht wurden. Von den Decken baumeln weiße Kunststoffkugeln mit bis zu einem Meter Durchmesser. Die Sparmaßnahme ist auch ästhetisch effektvoll: Die allesamt rechtwinkligen Räume wirken warm und organisch. Unterstützt wird das Wohfühlgefühl von den zwischen Blau und Grün changierenden Meerestönen, die sich an den Wänden der Geschosse abwechseln.

Ein ausgeprägtes Farbspiel ist stilistisch auch der einzige Trend, der bei vielen der Bauten in und aus Berlin hervorsticht. Zum Markenzeichen einer ganzen Berliner Baukultur reicht es nicht, aber einige Architektinnen und Architekten dieser Stadt sind wohl von Bruno Taut, dem Pionier des farbigen Bauens in Berlin, inspiriert. Mit seinen sozialen Wohnungsbauten der 20er- und 30er-Jahre hatte Taut als Erster wortwörtlich Farbe in die Metropole gebracht und sich auch nicht beirren lassen, als seine 1913 erbaute Gartenstadt Falkenberg den Beinamen „Kolonie Tuschkasten“ bekam. Mit grünem Glasmosaik hat der Architekt Jörg Ebers sein „Gehäuse“ in der Auguststraße belegt, in das er einen Laden und zwei Wohnungen „eingepackt“ hat. Ebers denkt seine Räume als Großmöbel, der Großmöbelstapel ergibt den Raumplan. Im Inneren seines Wohnhauses mit Laden spielt er mit Flächen aus Riffelbeton, geölter Eiche und Pastellfarben und schafft so ein Gefühl von Privatheit.

Auch für die „gelbe Villa“ in der Kreuzberger Methfesselstraße ist Farbe ein wichtiges architektonisches Element. An die 1872 errichtete Gründerzeitvilla wurde in den 50er-Jahren ein gelb gefliester Betonbau gesetzt, dem in den 60er-Jahren noch einen Glaskasten aufgepfropft wurde. Nun hat die Architektin Anne Lampen dieses skurrile Haus grundlegend umgebaut – aber so, dass die verschiedensten Bauepochen deutlich ablesbar bleiben. Die Spuren der Geschichte hat sie in sachliche Eleganz gefasst. Den Glasaufbau hat sie in Luxuswohnungen mit Panoramablick umgewandelt. Der Rest des Hauses ist aber für die Gemeinschaft: Es gibt therapeutische Einrichtungen und zwei betreute Wohngemeinschaften für essgestörte Mädchen. Im Herzen der alten Villa entstand ein Bildungszentrum für Kinder und Jugendliche. Die Farben Rot, Grün und Gelb ziehen sich an Wänden, Türen und eigens gefertigten Möbeln wie ein Orientierungssystem durch die verschiedenen Werkstätten, Tanz- und EDV-Räume, die Milchbar und das Kinderrestaurant. Statt dem typischen Kinderdesign „quadratisch, praktisch, gut“ hat die Architektin in der Ausstattung auf formschöne Möbel wie Arne-Jacobsen-Stühle und viel Dekoratives gesetzt. Highlight für die Kinder ist der Snoozelen-Raum, ein Kuschelraum, in dem ein riesiges Wasserbett mit Musik thront. Im Restaurant hängen wuschelige Teppiche an den Wänden – allen Sorgen vor Schokoladenfingern zum Trotz. Anne Lampens Konzept ist aufgegangen. „Die Kinder lieben die Räume und sind sehr empfänglich für Ästhetik“, sagt sie. Einen Beweis dafür hat sie auch: Noch gibt es kein einziges Graffito.