Shelly Kupferberg und ihr Buch „Isidor“: „Außer Schmerz nichts zu finden“

Die Berliner Autorin Shelly Kupferberg hat in Wien recherchiert. Was geschah 1938 mit Onkel Isidor? Und was mit dem Besitz ihrer jüdischen Familie?

Shelly Kupferberg

Shelly Kupferberg in Wien vor dem Haus, in dem ihr Urgroßonkel Isidor Geller wohnte Foto: WienLive/Stefan Diesner

taz am wochenende: Frau Kupferberg, Sie haben das Buch Ihrem Urgroßonkel Isidor gewidmet. Warum ihm?

Shelly Kupferberg: Vor einigen Jahren moderierte ich eine internationale Tagung in Berlin. Da ging es um NS-Raubkunst und Provenienzforschung. Und während dieser Tagung kam mir der Gedanke: Du hast doch selber einen angeblich so wahnsinnig reichen Urgroßonkel gehabt, der in Wien lebte – und Isidor geheißen haben soll.

Und was hatte dieser Isidor mit NS-Raubkunst zu tun?

Buchcover

Shelly Kupferberg, „Isidor. Ein jüdisches Leben“. Diogenes Verlag, Zürich September 2022. 256 Seiten, 24 Euro

Isidor lebte bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938 an das Nazireich in einer riesigen Wohnung in einem Wiener ­Palais. Und dieser großbürgerliche Onkel, das fragte ich mich nun, muss doch auch Kunst und ­vieles mehr besessen haben. Was ist daraus geworden?

Wie wurde in Ihrer Familie über Isidor geredet, wie war die Überlieferung zu ihm?

Isidor hieß ursprünglich ­Israel. Er kam aus der jüdischen Ultraorthodoxie, aus dem Osten Galiziens, einem kleinen Schtetl bei Lemberg. Auch fast alle seine Geschwister haben beim Weggang in die Stadt ihre jüdisch klingenden Namen abgelegt. In Wien schien Isidor eine wichtige Persönlichkeit gewesen zu sein, nicht nur innerhalb der Familie Grab-Geller. Er hatte sich aus ärmlichsten Verhältnissen hochgearbeitet. Im K&K-Reich der Habsburger brachte er es zum Kommerzialrat. Er war vermögend, in den 1920er- und 1930er-Jahren ein bekannter ­juristischer und ökonomischer Berater.

Seine Geschichte nimmt 1938 eine üble Wendung.

Histroische Aufnahme von Isidor im Gehrock, mit Bart und mit Stock

Shelly Kupferbergs Urgroßonkel Isidor Geller Foto: Kupferberg/Diogenes

1938 war ein brutaler Bruch in seiner Biografie. Mein Großvater Walter hat uns als Kinder davon erzählt. Walter ist der Wiener Neffe Isidors in meinem Buch. Walter musste sich als ­Jugendlicher an Sonntagen im Palais Isidors einstellen. ­Isidor gab dort Mittagessen für die Crème de la Crème der Stadt.

Wo war das Palais in Wien?

Die Wohnung war in einem Palais der Rothschilds, gleich am Ring, in bester Wiener Lage, gleich hinter dem Musikverein.

Wo haben Sie selbst als Kind gelebt?

In Berlin. Meine Großeltern sind allesamt emigrierte Juden aus Berlin, Wien und Hildesheim. Meine Eltern sind schon in Palästina beziehungsweise Israel geboren. Ich bin auch noch in Israel geboren. Wir zogen über Umwege nach Westberlin als ich ein Jahr alt war. In den Sommerferien sind wir weiterhin zu den Großeltern nach Tel Aviv gereist. Die blieben dort bis zu ihrem Lebensende, haben uns aber auch in Berlin besucht. Speziell Walter hat uns viel erzählt.

Bei „Walter“ handelt es sich um den Historiker Walter Grab?

Ja. Walter konnte immer alles schön mit Daten und Zusammenhängen einordnen. Mein Großvater erzählte uns von Isidor. Walter bekam an den Sonntagen bei den Banketten in Wien von Onkel Isidor immer knifflige Fragen gestellt. Der Großvater mimte das sehr eindrücklich. Onkel Isidor pflegte nach dem Mittagessen aufzustehen. Er klopfte gegen ein Glas und sagte: „Walter, steh auf!“ So mit autoritärer Stimme, das konnte Walter super nachmachen. Auch wie er dann, der Walter, aufsprang. Stille am Tisch. Dann fragte der Onkel Isidor: Wer schlug die Schlacht im Jahre so und so? Wer machte dies und das? Die Fragen waren nie abgesprochen. Und die Gäste durften den jungen Walter und seine richtigen Antworten bestaunen. Isidor sagte dann: „Setzen, Walter! Bestanden.“ Und warf ihm ein paar Münzen zu.

Porträt des Neffen Walter Grab als junger Mann

Walter Grab, Neffe Isidors und Großvater von Shelly Kupferberg, der als junger Mann aus Wien entkam Foto: Privat

Walter berichtete Ihnen auch, wie Isidor 1938 gefoltert und ausgeplündert wurde?

Walter erzählte uns von ­Isidors Ende, von der Verhaftung. Es war immer die eine Szene. Einen Tag nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Nazireich ging Walter zum Palais, nicht wissend, ob ein Essen stattfindet. Onkel Isidor selbst öffnete die Tür, was ungewöhnlich war, dies taten sonst Bedienstete. Isidor sagte: „Walter, heute findet kein Mittagessen statt.“ Walter riet Isidor, zu fliehen. Gleich gegenüber residierte Hitler im Hotel Imperial. Isidor wollte davon nichts hören. Er war ein paternalistischer Patriarch, der sich von einem jungen Menschen nichts sagen ließ.

Was geschah dann?

Isidor schickte Walter weg und wurde ein paar Stunden später verhaftet. Mein Großvater Walter hat immer wieder gesagt: Wie konnte Onkel Isidor nur die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig interpretieren.

Warum nicht?

Walter glaubte, Isidor hätte zu sehr an seinem Besitz gehangen. Er habe sich nicht vorstellen können, dass auch ihm dieser ganze Hass galt.

Hat sich über die Recherche Ihr Bild der familiären Erzählung stärker verschoben?

Vielleicht in Bezug auf Galizien, also das ärmliche Leben vor dem späteren Aufstieg in Wien. Mein Großvater hatte über Galizien eher abschätzig gesprochen. Er kannte es selbst nur aus den Erzählungen seiner Mutter, der Schwester Isidors. Die hatte sich sehr mühsam aus dieser superarmen, ultraorthodoxen, galizischen Realität herauswinden müssen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Einen Teil des Vermögens erwirtschaftete Isidor im Ersten Weltkrieg?

Ja und ich habe mich natürlich gefragt: wie? Als die Nazis sein Vermögen raubten, war er mehrfacher Millionär.

Wie kam er zu dem Besitz?

Offenbar mit nicht immer ganz lauteren Mitteln. Er war zunächst ein auffallend guter Schüler. Das eröffnete ihm Wege. Er studierte Jura, absolvierte eine Ausbildung an einer Import-Export-Akademie. Er wurde nicht zum Ersten Weltkrieg eingezogen, weil er als Sekretär in einem kriegswichtigen­ Lederwarenbetrieb arbeitete. Er stieg schnell auf, wurde Direktor des Betriebs und dann der Lederzentrale Österreichs. Ein hoher Posten, wahrscheinlich tätigte er da auch Nebengeschäfte. Er war einer dieser typischen Selfmademen und -women des Habsburger Reiches. Vieles befand sich im Umbruch. Wien war zu dieser Zeit, wie Berlin auch, eine Stadt in der etwa 200.000 Jüdinnen und Juden lebten. Viele Assimilierte, die sich nicht offen als Juden zeigen wollten.

In Ihrem Buch gibt es auch eine weibliche Entsprechung zu Isidors Aufstieg. Die Schauspielerin Ilona Hajmássy.

Im Tel Aviver Fotoalbum meines Großvaters Walter gibt es Bilder von Isidor und Ilona. Die Familie schaute wohl argwöhnisch auf diese Liaison Isidors. In Hollywood nannte sie sich später Ilona Massey. Sie kam aus ärmlichen, ungarischen Verhältnissen. Ihre erste Ehe endete tragisch. Isidor protegierte sie, finanzierte ihr Gesangsunterricht, organisierte kleinere Rollen an der Wiener Staatsoper, damals Hofoper. Sie hatte Nebenrollen im österreichischen Film, mit Heinz Rühmann. Sie ging vor den Nazis in die USA, war nicht jüdisch, hat in großen Hollywoodfilmen mitgespielt. Mit der jungen Marilyn Monroe oder den Marx Brothers.

Hat es Sie große Überwindung gekostet, in Wien zu recherchieren?

Ja und nein. Ich war fast ein bisschen besessen davon, herausfinden, was damals geschah. Es sind so viele Träume und Lebensentwürfe, die durch die Katastrophe der Shoah brutal beendet wurden. Das schmerzt. Bis heute. Und dann war da die Frage, was ist mit dem Eigentum der Familie Grab-Geller passiert? In den Archiven habe ich die Vermögenserklärung ­Isidors finden können. Jeder Jude, jede Jüdin musste ja den kompletten Besitz auflisten, unter Androhung höchster Strafen.

In der Haft wurde er unter Folter gezwungen, alles den Nazis zu übertragen.

Er musste unterschreiben. Bei Isidor ging es nach heutigen Maßstäben um viele Millionen. Neben Bargeld, Konten und Wertpapieren, besaß er feinstes Interieur, eine große ­Bibliothek, Kunstgegenstände, Gemälde, kostbare Teppiche, Juwelen, Porzellan und vieles mehr. Mein Großvater Walter hat die letzten vier Wochen in Wien, bevor er nach Palästina ausreisen konnte, bei Isidor nach dessen Folterhaft gelebt. Die Nazi-Sachverständigen gingen ein und aus, haben ­seinen Besitz geschätzt und vermessen. Isidor war absolut gebrochen und zerstört.

Es gibt diese Szene in Ihrem Buch, als ihr Großvater Walter Grab 1956 an der Tür der früheren Wohnung in Wien klingelt.

Walter war 1956 zum ersten Mal überhaupt wieder nach Europa und Wien geflogen. Er wollte schauen, was und wer noch existierte. Wie die Atmosphäre ist. Er ging immer wieder zum Bauernfeldplatz. Im neunten Wiener Bezirk. Dort, in der elterlichen Wohnung, hat er die 19 Jahre seines Wiener Lebens verbracht. Er schaute auf die Klingelschilder. Die meisten Familien waren nicht mehr da. Der neunte Bezirk war ein bürgerlicher Bezirk vor dem Krieg, in dem sehr viele Juden lebten. Das Hausbesorger-Paar war noch das gleiche wie früher, wohnte nur in einer anderen Etage. Er hat sich gefreut und bei ihnen geklingelt.

Was geschah dann?

Die Frau öffnete ihm die Wohnungstür, wurde kreidebleich und hat nur gebrüllt: „Der Jud ist wieder da!“ Daraufhin hat ihr Mann aus dem Hintergrund (auf Wienerisch) gebrüllt: Sag kein Wort! Walter wurde die Tür vor der Nase zugeknallt. Durch den Türspalt hatte er gesehen, dass sich Möbel seiner Eltern in der Wohnung befanden. Da war ihm klar: Außer Schmerz wirst du in Wien nichts finden. Er blieb in Israel, um sein Leben dort zu meistern. Hier ließ sich an nichts anknüpfen.

Gab es von Seiten derjenigen, die Ihre Familie misshandelten und ausraubten, jemals eine Kontaktaufnahme?

Nein.

Und von Seiten des österreichischen Staates?

Nicht, dass ich wüsste. Walter wurde 1956 überall abgewimmelt. Es sei nichts mehr da, die Verwaltungskosten hätten alles aufgefressen usw.

Wie war jetzt die Reaktion auf Ihre Recherche in den ­österreichischen Archiven und vor Ort?

Überaus hilfsbereit und freundlich. Die Archive sind inzwischen gesetzlich verpflichtet, bei Restitutionsfragen alles offenzulegen. Es ist erstaunlich, wie viel Beweismaterial in den Archiven schlummert. Ich bin die Treppe der Geschichte herabgestiegen. Wollte wissen, was sie mit Isidor und seinem Besitz gemacht haben. Im ­Judentum gibt es keine Missionierung. Aber ich spürte so etwas, wie eine Mission: meinem Urgroßonkel Isidor seine Geschichte zurückzugeben.

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