Vom Mars aus ist die Sicht oft klarer

Die „Humans on Mars“-Initiative an der Uni Bremen denkt das Leben unter den Bedingungen einer Extremsituation noch einmal neu: Was ist ein Rohstoff? Wie sieht ein sinnvoller Umgang damit aus? Und was eigentlich brauchen wir als Menschen?

So könnte es aussehen: Rendering des Mars-Habitats Foto: space is more

Von Lotta Drügemöller

Manchmal muss man einen Schritt zurücktreten, um die Dinge klarer zu sehen. An der Uni Bremen fällt dieser Schritt etwas größer aus: Christiane Heinicke und ihr Team treten ungefähr 70.000 Kilometer zurück, zumindest in Gedanken.

Die Physikerin leitet an der Uni Bremen seit Juli mit einigen weiteren Wis­sen­schaft­le­r*in­nen die „Humans on Mars“-Initiative. Das Ziel: Konzepte entwickeln für eine langfristige, eine nachhaltige Besiedlung des Mars. Technische Herausforderungen spielen eine Rolle, aber im Fokus der Initiative stehen immer auch soziale Forschungsfragen: Was bedeutet die Marsbesiedlung für unser Selbstverständnis als Mensch? Wie muss Kommunikation mit Computern und Kommunikation über weite Entfernungen ablaufen? Und über allem steht die Frage: Welche Lehren der Nachhaltigkeit können wir aus den Expeditionen auf andere Planeten mit auf die Erde nehmen? Die Marsbesiedlung als großes Gedankenexperiment.

Die Initiative arbeitet daher interdisziplinär, mit Hilfe von In­ge­nieu­r*in­nen und Psycholog*innen, Ma­te­ri­al­wis­sen­schaft­le­r*in­nen und Philosoph*innen. Rund 60 Forschende der Uni Bremen aus acht Fachgebieten sind beteiligt, in sieben Einzelprojekten.

Heinicke selbst arbeitet in einem Projekt, das auf den ersten Blick vor allem im klassischen Ingenieursbereich der Weltraumforschung angesiedelt ist: „Living Habitat“ heißt es; der kleine Lebensraum der Astronaut*innen, die Marsstation, wird darin selbst als lebendiges System konzipiert.

Für weite Marsmissionen, sieben Reisemonate von der Erde entfernt, kann man nicht mehr darauf setzen, dass Ressourcen nachgeholt werden: Statt wie auf der Internationalen Raumstation ISS durch Elektrolyse soll ein bioregeneratives System den benötigten Sauerstoff vor Ort durch Photosynthese produzieren. Heinicke und ihr Team wählen dafür Cyanobakterien in einer Nährflüssigkeit.

Neben Mensch und Bakterientank zählen die Forschenden aber auch die Maschinen, die Rechner, die Messstationen zum „lebendigen Lebensraum“: Sensibel müssen sie das Wechselspiel zwischen Besatzung und Lebenserhaltungssystem kontrollieren und nachsteuern. Sensibel messen sie Gase und Temperaturen. Sensibel aber müssen sie auch in der weiteren Arbeit mit diesen Daten agieren: Die Menschen auf einer Marsmission stehen unter Stress, „unter tierischem Dauerstress“ sogar, so nennt es Heinicke. „Es ist deshalb kontraproduktiv, wenn das System bei jeder Abweichung Alarm gibt“, erklärt die Ingenieurin. Ruhe behalten steht im Vordergrund – die Sensoren werden deshalb programmiert, zunächst selbst einen Plausibilitätscheck zu machen: Wie war die Situation vor fünf Minuten? Was sagen andere Sensoren? Wenn dort alles in Ordnung ist, gibt es nur eine Wartungsanfrage.

Die Maschinen haben aber noch eine andere, ziemlich heikle Aufgabe: Die Teammitglieder auf dem Mars sind aufeinander angewiesen. Auseinandergehen ist nicht möglich. Neben Sauerstoffkonzen­tration, Temperatur oder ph-Wert soll die Technik daher auch das soziale Miteinander messen. Gehen sich zwei As­tro­nau­t*in­nen aus dem Weg? Zieht sich ein Mensch zurück? Steigen die Cortisolwerte, der Blutdruck?

Messen können Maschinen und Computer all das bereits; sogar eine Analyse von Gesprächen und Gesprächshierarchien ist den Rechnern schon jetzt möglich. Das „Humans on Mars“-Projekt bräuchte es hierfür nicht. Was aber soll eine Maschine mit den Messdaten anfangen? „Der Satz ,Du bist gestresst, komm mal runter’ führt wahrscheinlich nicht unbedingt zur Deeskalation“, sagt Heinicke, sie lacht. „Da folgt eher eine Abwehrreaktion – blöde Maschine.“ Psy­cho­lo­g*in­nen in ihrem Team untersuchen deshalb, wie Maschinen agieren und reagieren müssen.

Geklärt werden müssen dafür ganz grundsätzliche Fragen der Mensch-Maschine-Kommunikation: Wie überhaupt sollte ein Programm gestaltet sein, um vertrauenswürdig zu wirken? Eher wie ein Freund, wie eine eigene Persönlichkeit – oder doch lieber wie ein Computer? Für Roboter zum Beispiel ist schon lange bekannt, dass eine zu starke optische Ähnlichkeit mit lebendigen Menschen eine Abwehrreaktion hervorruft – wir gruseln uns vor künstlichen Menschen. Für das Verhalten der Rechner stellt sich die Frage nach dem vertrauenswürdigsten Design an der Uni Bremen aber ganz neu.

Heinicke ist die Richtige für den Job als Koordinatorin der verschiedenen Disziplinen; sie ist Ingenieurin – bekannt geworden aber ist sie, weil sie an einem Nasa-Langzeitexperiment teilgenommen hat, bei dem sie ein ganzes Jahr mit Kol­le­g*in­nen aus der Raumfahrt isoliert in Containern gelebt hat, um eine Marsmission zu simulieren.

„Als Ingenieurin will ich ein kleines Habitat, alles möglichst handlich“, sagt sie. „Aber aus Erfahrung weiß ich: Zu klein darf es nicht sein, man muss sich aus dem Weg gehen können. Ich würde nie versuchen, da als Ingenieurin alleine was zu entwickeln. Dafür braucht es Architekten.“

Neben Sauerstoff­konzentration, Temperatur oder ph-Wert soll die Technik auch das soziale Miteinander messen

In ihrem letzten Projekt hat Heinickes interdisziplinäres Team eine Raumstation entworfen, die den Bedingungen auf dem Mars tatsächlich standhalten könnte – und gleichzeitig zum Leben und Arbeiten geeignet ist. Zylindrische Kapseln ohne Ecken und Kanten waren am Ende der Kompromiss zwischen technischer Machbarkeit und praktischen Bedürfnissen. Die Wohnmodule erlauben sich den Luxus extrem hoher Decken.

Es gilt, ein Gleichgewicht zu finden: Welcher Überfluss gehört zum menschlichen, lebenswerten Leben? Und wo ist es möglich, wo ist es nötig, zu sparen, zu knausern, Abstriche zu machen? Denn eines ist sicher: Zum Sparen zwingt das Leben außerhalb der Erde an allen Ecken und Enden. Diese Not macht erfinderisch.

Konkret wird das bei der Frage nach Ressourcen. Die sind auf dem Mars so begrenzt, dass man Abstriche machen muss. In einem der sieben „Humans on Mars“-Projekte untersuchen Materialwissenschaftler, wie sogar aus Regolith, dem staubigen Material der Marsoberfläche, mithilfe von Mikroorganismen, Kohlendioxid aus der Atmosphäre und Solarenergie Metall gewonnen werden kann.

Besonders rein bekommt man die Rohstoffe auf dem Mars so nicht. Das Endprodukt wird vielleicht nicht so schön glänzen wie das, was wir gewohnt sind. Heinicke sieht aber darin eine große Chance: „Auf der Erde verprassen wir unglaublich viel Energie, um ein möglichst schönes Produkt zu erstellen“, sagt sie. „Auf dem Mars habe ich diese Wahl nicht. Durch unsere Forschung können wir zeigen, dass ‚gut genug‘ reichen kann.“ Die Hoffnung: Produkte und Prozesse, die jetzt für den Mars entwickelt werden, können eines Tages unsere Verschwendungsprobleme auf der Erde lösen helfen.

Die ganze „Humans on Mars“-Initiative begreift Heinicke als die Möglichkeit eines Neustarts, ohne zu viel Rücksicht auf alte Gewohnheiten zu nehmen. „Der Mars zwingt uns, Extremfälle zu denken“, so Heinicke. „Wir können einfach mal fragen: Wo wollen wir denn eigentlich hin?“