Ein neuer Star und ein roher Diamant

Die Vuelta, die große Spanienrundfahrt, stand ganz im Zeichen der jungen Radsportler. Es gewann der 22-jährige Belgier Remco Evenepoel

Ein leuchtendes Rot in einer spanischen Nacht: Sieger Remco Evenepoel Foto: ap

Von Tom Mustroph

Remco Evenepoel warf auf dem Paseo del Prado in Madrid sein Rad in die Luft. Die Arbeit war vollbracht. Er hat die Vuelta a España gewonnen. Zum ersten Mal für sich selbst. Zum ersten Mal auch für sein Team Quick Step Alpha Vinyl. Das hat zwar in seiner fast 20-jährigen Geschichte jede Menge Weltmeistertitel und Klassikererfolge feiern dürfen. Ein Grand-Tour-Sieg war aber noch nicht dabei. Der 22-jährige Belgier erlöste auch seine gesamte Radsportnation von einem Trauma. 44 Jahre ist es her, dass ein Belgier eine Grand Tour gewann. Diese Durststrecke ist beendet. Da kann man schon mal Arbeitsgeräte im Wert von mehreren Zehntausend Euro in die Luft werfen.

Und gleich darauf in geradezu staatsmännische Pose verfallen. „Es ist historisch, Geschichte für das Team, für mein Land und für mich. Wir können alle stolz sein“, sagte Evenepoel nur wenig später. Sein Glück, aber auch seine Befriedigung waren unverkennbar. Denn nicht viele außerhalb des unmittelbaren Umfelds hatten ihm zugetraut, das Zeug zu haben, eine große Rundfahrt zu gewinnen. Die Zweifel, wie gut er sich im Hochgebirge schlagen kann, waren vor allem in seiner belgischen Heimat groß. Die alten Granden des Sports lasteten ihm auch gern charakterliche Defizite an.

Eddy Merckx warf ihm vor, viel zu egoistisch zu fahren. Johan de Munck, letzter belgischer Grand-Tour-Sieger – im Jahr 1978 gewann er den Giro d’Italia – bezeichnete Evenepoel als „Fußballer auf dem Rad“, weil er nicht die rechte Demut für den Tretsport mitbringe. Auch zeichne ihn keineswegs die Explosivität aus, die etwa ein Tadej Pogačar mitbringe oder ein Egan Bernal.

Daran mag manches wahr sein. Evenepoel zeigte bei dieser Vuelta aber auch, dass man trotz solcher Defizite gewinnen kann. Er ist sicher nicht der explosivste Bergfahrer. Aber mit seiner schieren Beinkraft, mit allmählichen Steigerungen, die am Ende allen wehtaten, fuhr er sich in der ersten Vuelta-Woche souverän ins Rote Trikot.

Mit bloßem Auge konnte man kaum die Beschleunigungen erkennen, die Evenepoel unternahm. Wie stark er war, sah man nur indirekt, nur daran, wie schnell andere Fahrer Anschluss verloren und das Feld rapide zusammenschmolz. Einzeln, aber stetig fielen Fahrer heraus, ganz so wie Tropfen in einer Tropfsteinhöhle von der Schwerkraft nach unten gezogen werden.

„Es ist historisch, für das Team, mein Land und für mich. Wir können alle stolz sein“

Noch deutlicher zeigte sich seine Extraklasse, wenn das Reglement es anderen Fahrern verbat, sich im Windschatten hinter Evenepoel noch irgendwie zu schonen: im Zeitfahren. Seinen Gesamtsieg verdankte der in erster Linie seiner brillanten Leistung im Solokampf gegen die Uhr. 48 Sekunden holte er auf Primož Roglič heraus, den später durch Sturz ausgeschiedenen Olympiasieger in dieser Disziplin. 1:51 Minuten auf Enric Mas. Der Spanier stand am Sonntag neben dem Belgier auf dem Siegerpodest. Als Zweiter hatte er 2:02 Minuten Rückstand in der Gesamtwertung. Der Löwenanteil stammte aus dem Einzelzeitfahren. Für den Rest sorgte die Differenz aus dem Teamzeitfahren zum Auftakt in den Niederlanden. „Wir haben diese Vuelta beim Zeitfahren verloren“, bilanzierte Mas ganz richtig.

Ein Überflieger, der die Rundfahrt dominiert hat, ist Evenepoel also nicht. Aber er hat seine Stärken ausgespielt, und dort, wo er schwächer war, hat er sich gut verteidigt. Er hat Widerstandskraft bewiesen. Und er konnte auch mit dem klassischen Rundfahrerpech gut umgehen. Nach einem Sturz, der seinen Körper länger schwächte, brach er nicht ein, sondern hielt den Rückstand in den südspanischen Sierras in Grenzen. Mit purer Willenskraft holte er sich auch noch einen Etappensieg auf einer kurzen Rampe. „Ich habe gezeigt, dass ich ein guter Bergfahrer und auch ein guter Rundfahrer bin“, sagte er nach seinem Erfolg am Gebirgskloster Monasterio de Tentudía.

Ja, das ist er. Und neben ihm schälte sich noch ein weiterer Berg- und Rundfahrer heraus. Juan Ayuso, erst 19 Jahre alt, wurde Gesamt-Dritter. Der Teenager fiel durch kecke Fahrweise auf. Er ist in den Bergen explosiver als Evenepoel. Er scheint in seiner Entwicklung sogar weiter, als es im gleichen Alter sein Teamkollege Tadej Pogačar war. Die Vuelta hat einen neuen Rundfahrt-Star geboren. Sie ließ auch einen neuen Radsport-Diamanten aufblitzen. Dem Ruf als Talentschmiede wurde die Spanienrundfahrt auch in diesem Jahr gerecht.