Die Welt von Tirloi undMaria

Eine Romafamilie pendelt zwischen prekärem Leben in Hamburg und Elend in der Walachei: Für die Dokumentation „Europa Passage“ hat Filmemacher Andrei Schwartz sie begleitet

Unterwegs, ohne je ganz anzukommen: Maria und Tirloi in Hamburg Foto: Susanne Schüle

Von Wilfried Hippen

Es sieht so aus, als würden Maria und Tirloi alle paar Monate eine Zeitreise machen: In der einen Welt fahren die Menschen in Pferdefuhrwerken über unbefestigte Dorfstraßen, in der anderen fließt pausenlos und laut der moderne Großstadtverkehr. Die beiden sind Roma. Ihr Heimatdorf ist Nămăiești auf der Südseite der rumänischen Karpaten. Seit dort alle Fabriken zugemacht haben und es deshalb keine Arbeit mehr gibt, fahren sie und andere aus ihrer weitläufigen Familie immer wieder nach Hamburg, um zu betteln.

Dort sitzen sie dann vor Supermärkten oder Kirchen und versuchen mit den immer gleichen bittenden Worten die Menschen dazu zu bewegen, Geld in ihren Pappbecher zu legen. Dieses Bild kennen alle, die in deutschen Städten leben. Es bildet die Schnittstelle zwischen den Alltagserfahrungen der Zu­schaue­r*in­nen und der gänzlich anderen Welt, die Dokumentarfilmer Andrei Schwartz in seinem Film „Europa Passage“ zeigt. Der gebürtige Rumäne hat Maria und Tirloi in Hamburg von 2017 bis 2021 mit der Kamera begleitet.

In Hamburg sind sie obdachlos. Sie schlafen unter Brücken und in halbverfallenen Häusern, bis sie vertrieben werden und sich den nächsten Unterschlupf suchen. Fast immer sind diese Lagerstätten nah an den Gleisen der Bahn, im Niemandsland, das weder bebaut noch anders genutzt werden kann. Auch in einem tieferen, existenziellen Sinn leben Maria und Tirloi in einem Niemandsland: Weder in Rumänien noch in Deutschland sind sie wirklich zu Hause. Dort können sie nicht leben. Hier bleiben sie heimatlos. So zeigt es uns zumindest Schwartz in den 90 Minuten seines Films, in dem er nichts erklärt, sondern die zwei unaufdringlich und niemals voyeuristisch mit der Kamera begleitet.

Er zeigt, wie prekär und hoffnungslos die Lebensumstände in Nămăiești sind. Geld kann man dort nur mit Besenbinden verdienen, kaum mehr als sechs Euro am Tag. Im Vergleich dazu sind die 10,50 Euro, die sie nach einem Gottesdienst in einer Hamburger Kirche erbetteln, ein guter Verdienst. Tirloi will auch gar nicht mehr zurück nach Rumänien, aber Maria sehnt sich nach ihren Kindern und Enkeln, und so fahren zuerst die beiden zusammen und später dann Maria allein wieder in die trostlosen Verhältnisse ihrer Heimat.

Über die Jahre gibt es kleine, positive Veränderungen: Ein Verwandter bekommt eine Stelle als Verkäufer des Hamburger Straßenmagazins Hinz und Kunzt, darf also offiziell an einer ihm zugewiesenen Stelle die Passanten ansprechen und bitten, ihn durch den Verkauf der Zeitschrift zu unterstützen. Und Tirloi bekommt eine Unterkunft in einer Hamburger Gemeinde, in die er später nicht nur mit Maria, sondern auch mit deren Enkelin Ioana einzieht, die dann schließlich in Hamburg zur Schule geht. Sie wird die erste in der Familie sein, die lesen und schreiben kann. Tirloi hat sogar eine Arbeitsstelle, aber dort darf Schwartz nicht filmen, weil Tirloi Angst hat, dadurch Schwierigkeiten zu bekommen.

Sie schlafen unter Brücken und in halbverfallenen Häusern, bis man sie vertreibt

Dies wird dann auch vor der Kamera diskutiert, denn Schwartz thematisiert auch seine eigene Arbeit in seinem Film, bleibt dabei aber immer dezent im Hintergrund. Aber er stellt Fragen, er wird im Dorf mit „Don Andrei“ angesprochen, und einmal fällt während einer vielleicht dann doch ein wenig gestellten Aufnahme der Satz: „Siehst du nicht, dass ich gefilmt werde?“

Man merkt, dass sich Maria und Tirloi dem Filmemacher immer mehr öffnen, dass sie mehr Nähe zulassen, und ihm vertrauen. Dennoch bleibt Schwartz ein Beobachter: ein Zeuge, der die Zustände, unter denen diese Gruppe von Roma und Romni in Hamburg lebt, so lebensnah und wahrhaftig zeigt wie möglich. „Europa Passage“ lässt so in eine Parallelwelt blicken: ein Hamburg, in dem Menschen im Winter bei Minusgraden unter Brücken schlafen und sich stoisch dieser Herausforderung stellen.

Einmal beklagt sich Maria darüber, dass sie tagein, tagaus, im gleichen Tonfall das gleiche „Hallo, bitte“ sagen müsse. ­Camus schrieb, dass man sich Sisyphos „als einen glücklichen Menschen vorstellen“ müsse, weil sein absurder Kampf ein Menschenherz beglücke. Von Maria und Tirloi lässt sich das kaum sagen.

„Europa Passage“, Regie: Andrei Schwartz, läuft in zahlreichen Programmkinos; www.europapassage-film.de