Gewalt gegen Frauen: Schutzraum im Villenviertel

In Berlin-Grunewald wurde 1976 Deutschlands erstes Frauenhaus eingerichtet. Am Donnerstag erinnert man dort mit einer Gedenktafel daran.

Eine Frau läuft vor dem ersten Autonomen Frauenhaus auf der Straße.

In einer Villa im Grunewald konnten sich misshandelte Frauen in Sicherheit bringen Foto: Chris Hoffmann/dpa

BERLIN taz | Die von Bäumen gesäumte Richard-Strauss-Straße im Berliner Villenviertel Grunewald liegt ruhig da. Vögel zwitschern, nur vereinzelt durchbricht der Motor einer Luxuslimousine die gemächliche Ruhe. Zwischen herrschaftlichen Anwesen und gepflegten Rasen befindet sich hinter einem großen schmiedeeisernen Tor eine zweigeschossige Gründerzeitvilla. Ein hoher Zaun mit Spitzen und Kameras soll unerwünschten Besuch fern halten. Nichts an dem imposanten Bau lässt erahnen, welche Hölle seine ehemaligen Bewohnerinnen einst durchmachen mussten.

Das soll sich ab diesem Donnerstag ändern. Eine Gedenktafel soll künftig daran erinnern, dass hier vor 46 Jahren das erste Frauenhaus Deutschlands eröffnet wurde. Zwei Jahre hatten Frauen aus der autonomen Frauenbewegung für den Zufluchtsort für misshandelte Frauen gekämpft, bis ihnen die Stadt die Villa im Grunewald zur Verfügung stellte.

Bund und Land finanzierten das Projekt zu gleichen Teilen. Alles andere als selbstverständlich in einer Zeit, in der Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar war und Frauen in Westdeutschland nur arbeiten gehen durften, wenn das „mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar“ war.

Häusliche Gewalt war bis dahin ein gesellschaftliches Tabuthema und Schutz für die Betroffenen nicht vorhanden. Der Bedarf war entsprechend groß. „Das Haus hatte noch gar nicht eröffnet, da standen schon die ersten Frauen vor der Tür“, erinnert sich Ilona Böttcher, die als Verwaltungsangestellte im autonomen Frauenhaus gearbeitet hat. „Das Haus war im Nu voll.“

Überfüllung, Feindseligkeiten, Angriffe

Auf 660 Quadratmetern gab es insgesamt zwölf Bewohnerinnenzimmer mit bis zu acht Stockbetten. Da keine Frau in Not abgewiesen wurde, stieg die Zahl der ursprünglich geplanten 70 Plätze innerhalb kürzester Zeit auf das Doppelte. „Überall lagen Matratzen auf dem Boden, die Zimmer und Flure waren vollgestopft mit Frauen und ihren Kindern“, erzählt die heute 75-Jährige. Die seien jedoch froh gewesen, überhaupt irgendwohin zu können, wo sie in Sicherheit sind.

Ilona Böttcher, Mitarbeiterin

„Das Haus hatte noch gar nicht eröffnet, da standen schon die ersten Frauen vor der Tür“

Die gut situierten Grunewald-Be­woh­ne­r*in­nen hätten zunächst sehr feindselig auf ihre neuen Nach­ba­r*in­nen reagiert, sagt Böttcher. Sogar eine Bür­ge­r*in­nen­in­itia­ti­ve gegen das Projekt habe sich gegründet. Nach zahlreichen Informationsveranstaltungen und Fortbildungen im Kiez, in der Schule und bei der Polizei sei die Akzeptanz dann aber gewachsen und auch seien Hilfsnetzwerke entstanden.

Die Adresse des Frauenhauses war geheim, nur der Polizei und Ta­xi­fah­re­r*in­nen war sie bekannt. Gefunden haben die Männer ihre Opfer häufig aber trotzdem: „Misshandler sind über den Zaun geklettert und haben die Tür eingeschlagen. Einer ist sogar bis ins Haus gekommen und hat eine Mitarbeiterin bedroht“, so die ehemalige Mitarbeiterin.

„Hauptsache wir sind weg vom Papa“

Demis Öz kam im Juli 1997 in das Frauenhaus. Die heute 60-Jährige, die in Wirklichkeit anders heißt, war vor ihrem Mann geflohen, weil sie Angst hatte, dass dieser ihre Kinder entführen könnte – nicht zu Unrecht, wie sich später zeigen sollte. Obwohl damals bereits weitere Frauenhäuser gegründet worden waren, war das erste autonome Frauenhaus noch immer hoffnungslos überfüllt.

„Als ich mit meinen beiden Kindern in das Zimmer mit sechs Betten kam, die mit Frauen und Kindern belegt waren, wollte ich nur weg“, erinnert sich Öz im Gespräch mit der taz. Ihre zehnjährige Tochter habe ihr damals Mut gemacht mit den Worten: „Hauptsache wir sind weg vom Papa und zusammen. Wir schaffen das. – Und das haben wir dann auch.“

Einfach war das nicht. „Ich musste alles aufgeben. Meinen Job bei Siemens, wo ich fast 20 Jahre gearbeitet habe, meine Wohnung, meine Freunde“, so Öz. Auch für die Kinder sei es schwer gewesen, sie mussten raus aus ihrem sozialen Umfeld, die Schule wechseln, durften keine Besuche empfangen. Ihr Ex-Mann fand sie trotzdem. „Er stand drei Tage mit Bildern von uns vor dem Haus und hat nach uns gefragt“, sagt Öz.

Demis Öz, Bewohnerin

„Was ich sehr positiv fand, war die Hilfe zur Selbsthilfe. Dadurch konnte ich meine Geschichte verarbeiten“

Nach einer Weile fühlte sich Demis Öz immer sicherer. Die Be­woh­ne­r*in­nen erledigten gemäß dem Prinzip der Selbstverwaltung alle anfallenden Arbeiten selbst, vom Einkaufen über das Kochen und Putzen bis hin zum Telefondienst und der Begleitung zu Ämtern oder in die ehemalige Wohnung. „Was ich sehr positiv fand, war die Hilfe zur Selbsthilfe. Für andere war das zum Teil überfordernd, ich konnte dadurch meine Geschichte verarbeiten“, sagt die gebürtige Türkin.

Gemeinsame Verarbeitung der Traumata

Oft saßen die Frauen auch zusammen, um über ihre Gewalt­erfahrungen zu sprechen. „Es war gut für die gewaltbetroffenen Frauen, zu sehen: Ich bin nicht die Einzige, der das passiert ist. Um wegzukommen von Schuldgefühlen und dem Gefühl des Scheiterns hin zum Erkennen der eigenen Stärke“, sagt Nadja Lehmann, die von 1994 bis 1998 Sozialarbeiterin im ersten autonomen Frauenhaus war.

Dennoch blieben Konflikte unter den Bewohnerinnen, die aus allen Altersgruppen, Klassen und Kulturen kamen, nicht aus. Das führte auch zu Diskriminierungen unter den Bewohnerinnen. „Es gab Frauen, die sich von migrantischen Frauen nicht ihr Zimmer zeigen lassen wollten“, sagt Lehmann.

Rassismus war jedoch nicht nur innerhalb des Hauses ein Problem. „Wenn ich die Nachbarn etwas gefragt habe, haben sie die Straßenseite gewechselt“, sagt die ehemalige Bewohnerin Demis Öz. Nach einem halben Jahr fand sie dann eine eigene Wohnung und zog aus. Das Frauenhaus unterstützte sie jedoch weiter – als Mitarbeiterin.

Generationenkonflikt führt zur Schließung

Im Jahr 2000, 24 Jahre nach seiner Gründung, schloss das erste autonome Frauenhaus seine Türen. Die ehemalige Mitarbeiterin Nadja Lehmann führt das vor allem auf einen Generationenkonflikt zurück. Die Gründerinnen hatten das Team paritätisch mit Lesben und Heteras besetzt, auch um den Bewohnerinnen alternative Lebensmodelle zu vermitteln. Die neuere Generation von Feministinnen pochte hingegen auf eine Migrantinnenquote unter den Mitarbeiterinnen, um sensibler für Mehrfachdiskriminierungen zu sein.

Auch das Prinzip der Selbstverwaltung wurde zunehmend zur Herausforderung. Als die Senatsverwaltung dann darauf drängte, den Mietvertrag für das mittlerweile stark renovierungsbedürftige Haus nicht mehr zu verlängern, war das Aus besiegelt.

Heute gibt es in Deutschland rund 400 Frauenhäuser mit mehr als 7.000 Plätzen, die eigentlich immer alle belegt sind. Nadja Lehmann eröffnete mit anderen ein Jahr nach der Schließung des ersten Frauenhauses ein Nachfolgeprojekt mit dem konzeptionellen Fokus auf Migration. Auch die ehemalige Bewohnerin Demis Öz arbeitet dort seit über 20 Jahren. Mittlerweile sind noch ein Wohnprojekt mit Zufluchtswohnungen, eine Beratungsstelle und seit vergangenem Jahr das erste barrierefreie Frauenhaus Berlins dazugekommen.

Jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau an den Folgen häuslicher Gewalt.

Aus ihren Erfahrungen im ersten Frauenhaus hat Lehmann viel gelernt: Das Team sei diverser, das Projekt ist mittlerweile auch für Trans-Frauen und ältere Söhne bis 18 Jahren offen. Dass die Schutzsuchenden heute in Einzelzimmern unterkommen, sieht sie positiv. Aber: „Jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau an den Folgen häuslicher Gewalt. Dass regelmäßig Frauen abgewiesen werden müssen, weil es keine freien Plätze gibt, fühlt sich für uns an wie unterlassene Hilfeleistung“, sagt Lehmann.

Auch heute noch zu wenig Frauenhausplätze

Dabei sieht die Istanbul-Konvention des Europarats mindestens einen Familienplatz, also für eine Frau plus Kinder, pro 10.000 Einwohner vor. Ausgehend von der durchschnittlichen Geburtenrate von 1,5 Kindern fehlen in Deutschland rund 14.000 Betten. In Berlin gibt es laut Senatsgesundheitsverwaltung in den sieben Frauenhäusern aktuell 422 Plätze. Hinzu kommen 450 Schutzplätze in Zufluchtswohnungen, die aber meist nicht sofort zugänglich sind, sowie 30 Notwohnungen, die pandemiebedingt eingerichtet wurden und nur bis Ende des Jahres zur Verfügung stehen. Macht insgesamt knapp 870 Plätze, nötig wären mindestens 920.

„Der Schutz von Frauen vor Gewalt ist ein zentrales Anliegen des Berliner Senats“, heißt es auf taz-Nachfrage aus der Senatsverwaltung. Demnach soll im nächsten Jahr ein achtes Frauenhaus mit 40 Plätzen in Betrieb genommen werden und weitere 15 Schutzplätze sollen entstehen. Für Nadja Lehmann reicht das nicht aus. Gemäß dem Grundsatz des ersten Autonomen Frauenhauses fordert sie: „Wir müssen angesichts der Femizide dazu kommen, dass wir jederzeit allen Frauen Schutz vor Gewalt bieten können, niemand darf abgewiesen werden.“

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