Nicht alles soll das Volk begehren dürfen

Schwarz-Grün in Schleswig-Holstein hat im Koalitionsvertrag eine „Generalklausel“ vereinbart, um Bürgerbegehren zu erschweren. Kritik gibt es von der Opposition und „Mehr Demokratie“

Sorgen für Unmut in der Opposition: Exemplare des schwarz-grünen Koalitionsvertrages liegen auf den Tischen Foto: Frank Molter/dpa

Von Esther Geißlinger

Kann Schleswig-Holsteins Regierung künftig nach eigenem Ermessen lokale Bürgerbegehren verhindern? CDU und Grüne haben in ihrem Koalitionsvertrag eine entsprechende „Generalklausel“ vereinbart. Noch bevor die Regierung ein Konzept vorgelegt hat, formiert sich bereits der Widerstand in Parlament und Verbänden.

Die FDP, die noch in der vergangenen Legislaturperiode mit Schwarz und Grün regierte, stürmte vor: „Der Ausschluss bestimmter Themen ist mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbar“, heißt es in dem Antrag, mit dem die Regierungsfraktionen aufgefordert werden, auf die geplante Gesetzesänderung zu verzichten.

Aus gutem Grund, findet auch Kai Dolgner von der SPD: „Das schwarz-grüne Vorhaben würde bis zu 90 Prozent aller Bürgerbegehren verhindern und Schleswig-Holstein bei der Bürgerbeteiligung um 40 Jahre zurückwerfen.“ Das bestätigt Karl-Martin Hentschel, Bundesvorstand des Vereins „Mehr Demokratie“: „Seit 30 Jahren wird die direkte Demokratie in Deutschland ausgebaut. Was in Schleswig-Holstein geplant ist, wäre erstmals ein richtiger Rückschlag.“

Volks- oder Bürgerbegehren erlauben inzwischen alle Bundesländer, Spitzenreiter ist Bayern, dort finden auch die meisten Initiativen statt, berichtet Hentschel, der von 1996 bis 2009 für die Grünen im Kieler Landtag saß. Aktuell gehöre Schleswig-Holstein bundesweit zur Spitzengruppe bei der Umsetzung direkter Demokratie. Als Kriterien gelten, welche Themen zugelassen sind, welche Fristen eingehalten und welche Beteiligungsquoren erreicht werden müssen. In Schleswig-Holstein sind die mit vier Prozent in Großstädten besonders niedrig (siehe Kasten).

In Schleswig-Holstein dürfen zur­zeit die meisten Fragen per Bürgerbegehren entschieden werden, ausgeschlossen sind Pflichtaufgaben der Gemeinden, Haushalts- und Personalangelegenheiten. Es gelten gestaffelte Quoren: bei kleinen Orten braucht es zehn, bei Großstädten ab 150.000 Menschen vier Prozent Zustimmung zum Anliegen eines Bürgerbegehrens.

In Niedersachsen sind Bauleitpläne sowie Planungen zu Krankenhaus oder Rettungsdienst von Bürgerbegehren von vornherein ausgeschlossen. Auch hier sind die Mindestbeteiligungen nach Gemeindegröße gestaffelt, von zehn bis fünf Prozent.

Hamburg schließt „Bundesrats­initiativen, Haushaltspläne, Abgaben, Tarife der öffentlichen Unternehmen sowie Dienst- und Versorgungsbezüge“ von Volksinitiativen aus. Im ersten Schritt braucht es Unterschriften von mindestens 10.000 Wahlberechtigten. Erfolgreich ist ein Volksbegehren, wenn fünf Prozent der Hamburger*innen zustimmen.

In Bremen sind alle „Themen, über die die Stadtbürgerschaft oder die Stadtverordnetenversammlung entscheidet“, zulässig, sogar die Landesverfassung kann die Bevölkerung ändern. Für ein erfolgreiches Volksbegehren sind fünf Prozent Zustimmung nötig, bei verfassungsändernden Vorhaben zehn Prozent.

Hentschel wäre allerdings noch lieber, Quoren ganz abzuschaffen: „Je höher sie sind, desto öfter scheitern Begehren unecht, also weil sich zu wenige Menschen beteiligt haben.“ Ohne vorgeschriebene Mindestbeteiligung müssten alle Seiten mobilisieren und Argumente liefern, die Beteiligung wachse. Eine Chance, findet Hentschel: „Wo es direkte Beteiligung gibt, wächst die Zustimmung zu Demokratie und Verfassung.“ Die Angst vor populistischen Begehren habe sich nicht bestätigt – zwar gab es etwa in der Schweiz eine Abstimmung zu Abschiebungen oder zum Bau von Minaretten, sie wurden aber nicht umgesetzt, und Folge-Begehren brachten andere Ergebnisse.

Mit der im Koalitionsvertrag skizzierten Generalklausel könnte die Landesregierung ein Bürgerbegehren auf Gemeindeebene verhindern, wenn sie „unverzichtbare Voraussetzung für Infrastrukturvorhaben für die Versorgung mit wichtigen Gütern oder Dienstleistungen sind oder Projekte, die der Erreichung der Klimaziele der Landesregierung dienen“, heißt es im Koalitionsvertrag.

„Uns ist die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger wichtig“, betonte Thomas Jepsen (CDU) im Landtag. Dennoch plädierte er für die Generalklausel: „Die besonderen Herausforderungen unserer Zeit erfordern eine Stärkung der repräsentativen Demokratie in den Kommunen.“ Vorhaben dürften „nicht auf die lange Bank geschoben werden, wir brauchen Planungsbeschleunigung“.

Was in Schleswig-Holstein geplant ist, wäre erstmals ein richtiger Rückschlag“

Karl-Martin Hentschel, Verein „Mehr Demokratie“

Auch Bina Braun, kommunalpolitische Sprecherin der Grünen, verteidigte das Projekt: „Wir alle sind gezwungen, schneller zu werden, schneller bei der Energiewende, schneller für die Klimaziele.“ Bürger­entscheide seien ­zugespitzt auf Ja oder Nein, würden damit komplexe Probleme nicht lösen. Braun setzt eher auf beratende „Bürger*innenräte“, die ebenfalls in dieser Legislaturperiode eingeführt werden sollen.

Über diese Haltung der Grünen kann Lars Harms (SSW) nur den Kopf schütteln: „Wenn man den Koalitionsvertrag liest, könnte man den Eindruck gewinnen, Bürgerbegehren wären populistisch und destruktiv. Sie sind das Gegenteil.“ Der Bau von Windparks, Solaranlagen oder Krankenhäusern werde eher durch Bürokratie als durch eine Bürgerbeteiligung verhindert.

Das bestätigen Zahlen, die bundesweit erhoben werden: „Die meisten Initiativen sind pro Klima“, sagt Hentschel. Aktuell bereiten „Mehr Demokratie“ und andere NGOs eine Volksinitiative gegen die geplante Generalklausel vor. „Wir hoffen aber, dass es so weit nicht kommt“, so Hentschel. „Wir setzen auf Gespräche mit dem Parlament.“