Im Sande verbuddelt, in Würde erblasst

LEGENDEN Zierpflanze? Königsgeschöpf? Über den Ursprung der Kartoffel erzählte man sich viel. Hier: die Wahrheit

In England gibt’s die „Arran Victory“. Hier kommt 1922 eine Kartoffel auf den Markt, die „Industrie“ heißt

VON STEFFEN GRIMBERG

Weil der Alte Fritz ja dieses Jahr dollen Geburtstag hat, den dreihundertsten schon, hat auch die alte Legende wieder Konjunktur: Niemand Geringeres als der Preußenkönig habe die Knolle in Brandenburg eingeführt, ja mit seinen allerhöchstselben Händen habe er sie in den sandigen Stammlanden seines Reiches verbuddelt. Und weil die skeptischen Untertanen lieber noch topinamburkauenderweise beim Hirsebrei saßen, auch noch gleich die nächste List erdacht: Damit die Tartuffel als was Besonderes galt, ließ Friedrich II. die Felder von seinen langen Kerls in ihren farbigen Röcken bewachen – und prompt wurde das Nachtschattengewächs zum begehrten Lebensmittel, von dem um 1900 rund zweihundert, laut anderen Quellen sogar knapp dreihundert Kilogramm pro Kopf im Lande verspeist wurden. Lang, lang ist’s her (siehe Seite 19).

Das klingt schon hübsch, die Historie der Kartoffel ist indes ein bisschen bunter – und erzählt von allein ein gutes Stück deutscher und europäischer Geschichte. Wie immer fing es natürlich ganz woanders an: In Südamerika nämlich, wo die Kartoffel ihren Ursprung nahm – und bis heute eine viel farbigere Angelegenheit ist, als es hiesige Standardsorten ahnen lassen.

In den Anden ist sie seit 8.000 Jahren Nahrungsmittel, dort lernten sie die spanischen Eroberer kennen – und nahmen sie mit nach Hause. Schluss also auch mit Freibeuterromantik und der Geschichte, Sir Francis Drake habe die Kartoffel anno 1589 in Europa eingeführt – da wuchs die Knolle bereits seit ein paar Jahrzehnten bei Sevilla. Was allerdings stimmt: Oberirdisch galt die Kartoffel zunächst mal als nette Medizinal- und Zierpflanze. Und nur die Mutigsten bissen in das, was unten dranhing. Denn die Pflanzen aus Mittelamerika passten mit ihrem Biorhythmus vielleicht noch nach Spanien, aber kaum ins herbere Klima Mittel- oder Osteuropas. Schließlich passte sich die Knolle an und büßte dabei peu à peu ihre Farbigkeit ein. Nach aktuellem Forschungsstand war es schon Fritze Zwos Urgroßvater Friedrich Wilhelm (1620–1688), der sich als Großer Kurfürst im Kartoffelanbau versuchte.

Doch dauerte es bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, bis die Kartoffel zu der Feldfrucht überhaupt mutierte – vorher fand sie im Gemüsegarten statt – und die Tonnage stieg. Bald ist die meist noch weißfleischige Knolle das Lebensmittel schlechthin, vor allem in Irland, wo wie überall in Europa Mitte des Jahrhunderts der Pilz Phytophthora infestans Ernten vernichtet. Rund eine Million Menschen verhungern, die gleichzeitige Auswanderungswelle lässt die irische Bevölkerung um mindestens zwanzig Prozent schrumpfen. Deutschland kommt besser weg, das „Manna des gemeinen Mannes“ (so der deutsche Enzyklopädist Johann Georg Krünitz 1785) verfault nicht ganz so stark. Gleichzeitig steigt die Kartoffelvielfalt stark an, zur Kartoffelausstellung im sächsischen Altenburg präsentieren Züchter und Händler über 2.600 Sorten.

Doch die Industrialisierung fordert ihren Preis: Mehr Standard und Ertrag müssen her. Alte, gern mal bläulich-schwarze oder rötliche Sorten fallen hierzulande der Massenproduktion zum Opfer, während „Arran Victory“, „Shetland Black“ oder „Bleue de la Manche“ in England, Schottland und Frankreich weiter angebaut werden.

In Deutschland kommt 1922 dagegen eine Sorte auf den Markt, die gleich ganz programmatisch „Industrie“ heißt. Im Dritten Reich sollen immer höhere Erträge helfen, Nazideutschland von Lebensmittelimporten unabhängig zu machen. Geschmack ist Nebensache, es kommt auf Krankheitsresistenz, Lagerfähigkeit und leichten Anbau an.

Während der Alte Fritz angeblich noch „Kartoffel statt Trüffel!“ forderte, bleibt das für die Zulassung von Pflanzensorten zuständige Bundessortenamt eher der Zielsetzung der Standardisierung treu. In der derzeit gültigen Liste vom Mai 2011 stehen gerade noch 206 Kartoffelsorten – und die Bundessortenliste leistet brav die „Zuordnung von zugelassenen Kartoffelsorten zu den Kochtypen und Knollenformen nach § 1 und 5 der Verordnung über gesetzliche Handelsklassen für Speisekartoffeln“. Bürokratie statt Geschmacksabenteuer. Wen wundert’s da noch, dass der Verbrauch in die Knie geht.