Der Blick der Straße

Berliner Obdachlose haben ihren Alltag mit Einwegkameras festgehalten. Ihre Bilder geben Einsicht in Freundschaften vorm KaDeWe, Konkurrenz um Pfandflaschen und den Traum von einem anderen Leben

Ich arbeite gastronomisch. Nachts von 1h – 5h bei der Currywurst-Bude. Ich sammle Teller und Flaschen ein. Deshalb trage ich immer ein Jackett. Mein Schlafplatz ist 10 Sekunden von meiner Arbeit entfernt. Ich schlaf immer an der gleichen Stelle vor dem Hotel. Da kommt das ganze Jahr lang warme Luft raus – 30°, weil darüber ist ein Schwimmbad.

Konzept Debora Ruppert

Michael

Product Placement. Das ist ein AKTIV-FOTO und ­dokumentiert das Zeit­geschehen.

Das sind die beiden Mädels von der Kleider­kammer. Eine ist Französin. Da hole ich mir ein neues Jackett, wenn ich es brauche.

Das ist Werner. Wir trinken immer mal einen ­zusammen. Um die Ecke ist EDEKA und das KaDeWe.

Da vorne wohnt Bruce Willis' Synchron­sprecher – Manfred Lehmann.

Guck mal, der Penner in Farbe. Ich bin der Engel mit dem kaputten Flügel.

Michael, fotografiert von Debora Ruppert

Aaron

Die Frankfurter Allee erinnert mich an meine Mutter. Ich war hier früher als Kind oft mit meiner Mutter.

Das hier ist auch Berlin. Ich bin meinen alten Schulweg entlanggelaufen und dann kam ich zu einem Naturschutzgebiet. Dort habe ich zwei Rehe gesehen. Diese Ruhe habe ich gebraucht. An schweren Tagen konnte ich hier Dinge verarbeiten und wieder klare Sinne bekommen.

Ich war hier in einer ­Stimmung – tiefgründig mit mir selbst. Das Bild wollte ich nach dem Gefühl machen, was ich hatte. Man denkt, ich habe sonst was genommen, aber das habe ich nicht.

Die Straße in Schlagworten ist für mich: LIEBE, man hört von Leuten, dass man nicht alleine ist. ­EHRLICHKEIT, Leute auf der Straße sind ehrlich und haben ein klares Bild von der Welt. Wenn sie dann auch wieder rauskommen, sind sie stärksten Leute der Welt. WUT, Kriminalität und Hass gibt es viel auf der Straße. – TRAUER, dass es überhaupt so ist, dass Leute auf der Straße sind und keinen Platz haben. Ich möchte wieder zurück zu meiner Familie. Ich bin auf dem Weg zurück zu meinen Freunden. Ich baue mein altes Leben wieder auf.

Die Parkaue, ein echt schöner Park in der Nähe der Frankfurter Allee. Da gehen Familien spazieren und füttern die Enten. Ich habe meinen Alltag auf der Straße verbracht, wie jeder andere Bürger auch.

Ich interessiere mich sehr für Schauspiel und auch für Musik. Ich möchte Musiker werden. Ich mache Bilder nach meinem Gefühl. Es soll echt sein. Ich war hier entspannt und gut drauf.

Aaron, fotografiert von Debora Ruppert

Walther

Es ist eine Demütigung. Das ist meine Landschaft – in Mülleimern Pfandflaschen sammeln. Wenn ich eine schöne Frau sehe und daneben eine Pfandflasche, greife ich ohne zu zögern nach der Flasche. Das ist meine Welt – ­Flaschen, ab in die Tüte. Mit Glück habe ich schnell einiges zusammen. Früher habe ich die ganze Zeit Flaschen gesammelt. Heute nicht mehr so oft, es ist sehr anstrengend. Schon um 5 Uhr muss man am Flughafen sein, wenn man dort sammeln will. Es ist ein Business. Es gibt viel Konkurrenz.

Das ist ein Ticket, um zu essen. Das bekommt man an der Bahnhofs­mission Zoologischer Garten. Das Fahrrad gehört mir nicht. Aber ich habe das Ticket da reingelegt.

Ich mag Eis. Es ist kalt. Du hast keine Gruppe. Keine Freunde. Keine Eltern. Ein Weg ist oft kein Traum.

Die Straße ist wie ein Gefängnis. Es ist wie Hölle, ich bin oft allein. Je kaputter man ist, je mehr man drogen­abhängig ist, desto eher ist man Teil der Gruppe, je funktionaler man ist, desto eher ist man allein. Es gibt keinen Ausgang. Ich suche den Ausgang zu einem besseren Leben.

Das ist eine deutsche Statue. Sie hat ein Schutzschild und Waffen. Auf der Straße musst du so sein – überall lauert Gefahr.

Hier bin ich mit Georg (links, Mitarbeiter vom Nacht­café). Ich bin wirklich ein Penner. Ich bin alt geworden. Ich habe kein Mitleid mit mir. Ich nehme ein Skalpell und schneide mich selbst mit Worten.

Walther, fotografiert von Debora Ruppert

„Die meisten fanden das erst mal cool“

Die Fotografin Debora Ruppert hat sich das Projekt „Blick:wechsel“ ausgedacht und Einwegkameras an Berliner Obdachlose ausgegeben. Wie haben die reagiert?

Debora Ruppert 41, lebt und arbeitet als Fotografin in Berlin.

Interview Antje Lang-Lendorff

taz am wochenende: Frau Ruppert, seit 2009 fotografieren Sie Obdachlose in Berlin. Wie gehen Sie dabei vor?

Debora Ruppert: Ich frage zunächst, ob ich mich zu ihnen setzen darf, ich will ja auf Augenhöhe reden. Meistens erzähle ich erst beim zweiten oder dritten Treffen, dass ich obdachlose Menschen fotografiere. Ich zeige Porträts von anderen und frage, ob sie Bock haben mitzumachen. Meistens erkennen sie Menschen auf den Fotos, die Szene ist ja gut vernetzt, das schafft Vertrauen.

Beim Projekt „Blick:wechsel“ sind Sie vor allem begleitend tätig. Gemeinsam mit Ehrenamtlichen haben Sie 42 Einwegkameras an Obdach- und Wohnungslose verteilt. Sie haben damit die Bildhoheit abgegeben. Warum?

Auch wenn ich mich zu den Leuten setze, zeige ich doch immer meine Perspektive. Ich wollte ein Projekt machen, bei dem sie selbst die Gestaltenden sind. Es ging um den Blickwechsel, dass sie selbst ihre Geschichte erzählen. Deshalb gibt es auch keine Begleittexte über sie. Das Einzige, das von mir stammt, sind Porträts in Schwarz-Weiß, auf denen man sieht: Ah, diese Person steht hinter der Kamera.

Wäre es nicht konsequenter gewesen, sie nicht zu zeigen, sondern komplett für sich sprechen zu lassen?

Die Bilder der Einwegkamera sind ja ein bisschen krisselig, pixelig. Die Porträts führen wie ein roter Faden von einem zum nächsten. Man muss auch sagen: Viele, die auf der Straße leben, freuen sich, wenn ich sie porträtiere. Ich bringe ihnen die entwickelten Fotos wieder mit, da sind sie oft superstolz drauf.

Wie haben die Menschen auf die Idee mit den Einwegkameras reagiert?

Die meisten fanden das erst mal cool. Wir haben uns mit ihnen verabredet, sind in Nachtcafés und Suppenküchen gegangen, um die Kameras wieder einzusammeln. Etliche sind nicht zurückgekommen. Manche Protagonisten haben wir gar nicht mehr gefunden. Andere waren am Anfang ganz euphorisch, wollten am Ende aber die Bilder einfach für sich persönlich behalten und nicht, dass sie veröffentlicht werden. Wieder andere waren begeistert bis zum Schluss dabei. 27 Bilder sind auf jeder Kamera. Sie konnten 6 Fotos auswählen und etwas dazu erzählen.

Eine Frau ist während des Projekts gestorben.

Sie war sehr dünn, man hat gesehen, dass sie fertig ist vom Leben auf der Straße. Sie ist in der Notübernachtung eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Ihr Partner hat uns später davon erzählt.

Mehrere Teilnehmende haben gesagt, dass sie weg wollen von der Straße. Hat es jemand geschafft?

Aaron, der junge Mann von der Frankfurter Allee, hat das gepackt, mit einem starken eigenen Willen. Ich habe den Eindruck: Je länger die Leute obdachlos sind, desto schwieriger ist der Weg zurück in die Gesellschaft. Aaron war ein halbes Jahr wohnungslos, er hat in einer Notübernachtung geschlafen. Es haben sich So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen um ihn gekümmert, er hat sich auch Freunde gesucht. Nur wenn es soziale Beziehungen gibt, ist ein Absprung möglich.

Die Klientel auf der Straße verändert sich. Träger der Wohnungslosenhilfe berichten schon länger, dass mehr Osteuropäer und mehr Frauen obdachlos sind.

Das beobachte ich auch. Wobei ich über die Jahre obdachlose Menschen aus allen möglichen Ländern getroffen habe, aus Syrien, Afghanistan, England, Ghana, Frankreich, neuerdings auch aus der Ukraine.

Hat der Kontakt mit Menschen auf der Straße Ihren Blick auf die Dinge geändert?

Mir ist die Zerbrechlichkeit des Lebens stärker bewusst geworden. Abrutschen geht schneller, als man denkt. Wenn ich abends in meinem Bett liege, warm, geschützt, dann bin ich dankbar.

Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Das klingt zu schön, um wahr zu werden, oder?

Das klingt erst mal wie eine Utopie. Ich glaube aber, dass es eine solche Vision braucht, damit man mit dieser Hoffnung versucht etwas zu verändern. Auch wenn man das Ziel nicht hundertprozentig erreicht, passieren Dinge auf dem Weg. Selbst wenn nicht alle von der Straße wegkommen, ist jeder einzelne, bei dem es klappt, ein wichtiger Schritt.

Die Ausstellung Blick:­wech­sel ist bis zum 28.10. im Abgeordnetenhaus Berlin zu sehen.