Mit vielen Fragezeichen

Annie Ernaux hat ein scharfsinniges Gespür für den Umgang mit Sprache. Das zeigt auch ihr aktueller Band „Ein anderes Mädchen“. Umso betrüblicher ist es, dass sie ihren Namen unter offene Briefe setzte, die sich durch dubiose Pauschalisierungen Israels auszeichnen

Annie Ernaux geht am 6. Oktober 2022 im Park spazieren, nachdem ihr der Nobelpreis zugesprochen wurde    Foto: Johanna Geron/reuters

Von Till Schmidt

Normandie, ein Sonntag im August 1950: Eine Frau erzählt einer Nachbarin vom Tod ihrer Tochter. Nüchtern beschreibt sie die Diphterie, die „Beläge in Hals und Rachen, die Atemnot“ – und fügt hinzu: „bei ihrem Tod sah sie aber aus wie eine kleine Heilige.“ Der jüngeren Schwester habe man Jahre später von alledem nichts erzählt. Um sie nicht zu belasten. Ohnehin war das tote Mädchen auch „viel lieber als die da“.

„Die da“, das bezog sich auf jene Schwester; auf die damals 10-jährige Annie, die das Gespräch damals zufällig belauscht hatte.

In ihrem neuen Buch nimmt Annie Ernaux erneut eine Erinnerung zum Ausgangspunkt für ihr schreibendes Nachdenken über ihre eigene biografische Erfahrung. In „Das andere Mädchen“ versucht sie, den frühen Tod ihrer Schwester und dessen Bedeutung für das eigene Leben zu fassen; nach regelmäßigen Friedhofsbesuchen um Allerheiligen herum, auch in dem Wissen, dass sie, die Klassenüberläuferin, selbst nicht in ihrer Herkunftsregion begraben werden möchte.

Bereits auf den ersten Seiten fragt sich Ernaux: War das Belauschen des Gesprächs wirklich die erste Konfrontation mit dem Tod der Schwester? Oder gab es schon zuvor vereinzelt Bemerkungen und Beobachtungen? Ernaux macht, was sie in ihren Büchern immer wieder tut: Sie erstellt eine Art Liste, mit vielen Fragezeichen. Sie bleiben stehen – und Ernaux schreibt weiter.

In jedem Fall hat sich die Szene unveränderlich in Ernaux’ Gedächnis gebrannt. Vielleicht auch als Urszene der Beziehung zu ihrer Mutter. An ihr arbeitet sich Ernaux auch in „Das andere Mädchen“ ab, wenn auch weniger umfassend als in ihren anderen Werken: „Ich habe es ihr heimgezahlt. Ich habe gegen sie geschrieben. Für sie. An ihrer Stelle, der stolzen und erniedrigten Arbeiterin.“ Den Schreibprozess von „Das andere Mädchen“ vergleicht Ernaux mit dem Entwickeln eines Films. Nach über sechzig Jahren holt sie ihn nun aus dem Schrank hervor.

Ungeachtet des sehr frühen Todes von Ginette herrschte lange Zeit Konkurrenz zwischen den beiden Schwestern. Ernaux schildert dies aus der Perspektive eines Einzelkindes, dessen Eltern sich ein zweites gar nicht hätten leisten können – finanziell wie auch emotional. Die Anwesenheit ihrer toten Schwester, durch Anspielungen oder Glorifizierungen etwa, kränkte Ernaux in jungen Jahren sehr. Es waren gerade die Eltern, die diese Konkurrenzsituation mitschufen. Immerfort betonten sie Ernaux’ vermeintliche Unzulänglichkeit sowie die Last, die sie ihnen bereiten würde.

Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp, Berlin 2022. 80 Seiten, 18 Euro

In „Das andere Mädchen“ geht es auch um den glücklichen Zufall, nicht selbst von den vielen eigenen Krankheiten dahingerafft worden zu sein. Wie Ernaux’ Mutter meinte, war dies einmal auch auf die wundersame Wirkung von Lourdes-Wasser zurückzuführen. Mit dieser abergläubischen Alltagsreligiösität korrespondiert die Erhebung der toten Schwester zur Heiligen, die immer wieder als eine solche bezeichnet wird. Noch lange nach ihrem Tod ist Ginette als leeres Bild anwesend, dient den Eltern genauso wie Annie als Projektionsfläche.

Wie Ernaux schreibt, musste sie lange Zeit mit einer „seltsamen Unlogik“ zurechtkommen: „Du, das artige Mädchen, die kleine Heilige, warst nicht errettet worden, ich, der kleine Teufel, lebte. Mehr noch, war durch ein Wunder geheilt worden. Stolz und Schuld, weil ich gemäß einem undurchsichtigen Plan zum Leben auserwählt worden war. […] Aber auserwählt, um was zu tun. Mit zwanzig, nachdem ich durch die Hölle der Bulimie und der versiegten Monatsblutung gegangen war, tauchte eine Antwort auf: um zu schreiben.“

Weit mehr noch als andere Bücher von Annie Ernaux ist „Das andere Mädchen“ ein Fragment geblieben. Die „Ethnografin ihrer selbst“ seziert darin nicht so umfangreich die Brutalität der Klassenverhältnisse, das Trennende der feinen Unterschiede sowie den Wechsel zwischen den sozialen Welten. Doch auch in „Das andere Mädchen“ stellt Ernaux die Frage nach ihrer Rolle im schwerfälligen System Familie; beschreibt sie als das Ringen einer nach Freiheit strebenden Frau.

Dass Annie Ernaux vergangene Woche den Nobelpreis für ihr literarisches Gesamtwerk erhalten hat, ist mehr als verdient. In Deutschland wurde sie tatsächlich erst in den letzten Jahren bekannter, im Zuge des Hypes um die deutsche Übersetzung von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (2016) und nachdem der Suhrkamp Verlag damit begonnen hatte, Ernaux’ Werke peu à peu als Neuübersetzungen zu veröffentlichen. Viele ihrer Bücher verfasste die heute 82-Jährige schon vor mehreren Jahrzehnten, „Das andere Mädchen“ erschien im französischen Original bereits 2010.

Ernaux ist eine sensible Autorin mit einem scharfsinnigen Gespür für soziale Machtverhältnisse. Ein zentrales Thema ist dabei unter anderem der Umgang mit Sprache.

Umso betrüblicher ist es, dass Ernaux ihren Namen unter offene Briefe gesetzt hat, die sich durch Klischees, Verkürzungen und dubiose Pauschalisierungen auszeichnen. Dabei geht es wieder mal um Israel. Den Anstoß für die nun begonnene Debatte in Deutschland lieferte ein kurzer Artikel in der israelischen Tageszeitung Jerusalem Post am Tag der Preisverleihung. Nüchtern wurde darin auf Ernaux’ wiederholte öffentliche Unterstützung für einseitig anti-israelische Stellungnahmen verwiesen, die zum Teil unmittelbar von der BDS-Bewegung ausgingen.

Ihre Schwester, „das artige Mädchen“, starb früh. Davon handelt der Band

Inwieweit Ernaux’Unterstützung auf einen auch unter Linksintellektuellen verbreiteten Herdentrieb zurückzuführen ist oder ob sie tatsächlich inhaltlich voll und ganz hinter den Aufrufen steht, muss sich noch zeigen. Ernaux selbst hat sich in den letzten Tagen hierzu nicht geäußert.

Selbstverständlich aber trägt Ernaux die Verantwortung für ihre politischen Positionierungen. Diese umfassen ihre Unterstützung für den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon ebenso wie ihre Unterschrift etwa unter einen Aufruf zum grundsätzlichen Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv 2019, inklusive der Fernsehübertragung in Frankreich.

Mit der Debatte um ihre anti-israelischen Positionierungen geht die Rezeption Ernaux’ vielleicht in eine neue Phase.