Eine Einladung, sich zu verlieren

Sie ist eine der bedeutendsten Bildhauerinnen der Gegenwart: Die Britin Phyllida Barlow hat den diesjährigen Kurt-Schwitters-Preis bekommen. Ihre Arbeit „Breach“ ist nun in Hannover zu sehen

Zerklüftetes Konstrukt: Phyllida Barlows Arbeit „Breach“ in der Wechselausstellungshalle des Sprengel-Museums in Hannover Foto: Marco Rauch/dpa

Von Bettina Maria Brosowsky

Seit 1982 vergibt die Landeshauptstadt Hannover im zweijährigen Turnus den Kurt-Schwitters-Preis. Die Auszeichnung, seit 25 Jahren durch die Niedersächsische Sparkassenstiftung finanziell alimentiert, lässt nicht nur das Herz von Reinhard Spieler höher schlagen: Je­de:r könne dadurch die Luft der großen Kunstwelt schnuppern, wie es der Direktor des Sprengel-Museums durchaus ironisch ausdrückt – so illuster liest sich die Liste der internationalen Preisträger:innen, die jeweils im Anschluss in Hannover ausstellen. Freilich: Unter den nunmehr 17 Schwitters-Ausgezeichneten finden sich nur vier Frauen – inklusive der aktuellen Preisträgerin, Phyllida Barlow aus London. Diese Schieflage veranlasste Spieler zu einer drastischen Maßnahme: Die Jury, zwar unter seinem Vorsitz tagend, war dieses Mal ausschließlich weiblich besetzt.

Und noch etwas scheint anders, wenn auch vielleicht nur aus Zufall: Ausdrücklich versteht sich der aktuell mit 30.000 Euro dotierte Preis als Würdigung renommierter Künstler:innen, deren Werk einen Bezug zum künstlerischen Schaffen des Namensgebers Kurt Schwitters aufweist. Aber gerade dieser Aspekt war bei den letzten Malen mitunter nur schwer nachzuvollziehen. Da fällt auf, wie kongenial im Geiste des Hannoverschen Säulenheiligen nun Barlow arbeitet – und wie souverän ihre riesige Raumarbeit „Breach“ in der Wechselausstellungshalle des Sprengel-Museums das demonstriert. „Breach“: Das englische Wort lässt sich am harmlosesten mit „Bruch“ übersetzen. Man kann es aber auch als Bruch im weiteren Sinne verstehen: als Verstoß gegen eine Regel. Oder, eine militärische Konnotation einbeziehend, als Bresche. Dabei schwingt dann die Metapher der Avantgarde mit, die im modernen Sprachgebrauch ihre Herkunft aus dem Kriegsjargon – als Vorhut mit initialer Feindberührung – wohlweislich längst abgelegt hat. Ein klug gewählter Titel also.

Unter Barlows Regie hat ein Prozess der Wucherung um sich gegriffen, der – hätte man es ihm erlaubt – in weitere Teile des Museums hätte ausufern können

Barlow, 1944 in Newcastle upon Tyne im nordöstlichen England geboren und vergangenes Jahr als Dame Commander des Order of the British Empire in den Adelsstand erhoben, zählt zu den bedeutendsten Bildhauerinnen der Gegenwart. Daraus aber macht sie kein Aufhebens: Verheiratet mit einem Künstlerkollegen und Mutter von fünf Kindern, hat sie auch dem vermeintlichen Karrierehemmnis Familie getrotzt. Kuratorin Carina Plath erzählt: Auf die durchaus verletzende Bemerkung, dass sie nun eine Weile wohl eher Marmelade kochen statt Kunst schaffen könne, soll Barlow seinerzeit zurückgefragt haben, was denn daran falsch wäre. Viele ihrer kleineren, frühen Arbeiten beschäftigten sich mit Situationen aus dem häuslichen Alltag. Sie schuf Objekte für das Bügelbrett, den Fernseher, das Klavier oder den Lehnsessel, dann in Form einer aufgerollten, mit rotem Band zusammengehaltenen, vermutlich alten Matratze.

Ihr skurriler Humor, aber vor allem die Liebe zum einfachen, auch mal als Abfall angesehenen Material stellt Barlow in die unmittelbare Nähe zu Schwitters. Erst recht aber ist es ihre Arbeitsmethodik, die den Prozess des fortwährenden Machens als einem Realisat gleichwertig versteht – wenn nicht sogar als bedeutender. Viele der Arbeiten Barlows sind ortsspezifisch und temporär angelegt, verschwinden also absehbar wieder; ein radikales Unterlaufen des Kunstmarktes.

Drei Wochen lang hat sie nun in Hannover gearbeitet, zusammen mit vier As­sis­ten­t:in­nen aus ihrem Londoner Studio sowie zwei Hel­fe­r:in­nen von vor Ort. Lediglich eine Grundidee habe sie schon zu Hause in Großbritannien entwickelt, erzählt sie, nachdem sie den überwältigenden Maßstab des rund 700 Quadratmeter großen White Cube in dem Hannoverschen Museum erfahren habe. Den leeren, gleichwohl physische Präsenz ausstrahlenden Raum durchdringt „Breach“ nun mit einer materialisierten Diagonalbewegung, die zwei Seiten ausbildet. Die eine, stärker zerklüftete und lichter wirkende Front fordert die Be­su­che­r:in­nen dazu auf, sich zu verlieren in der Tiefe dieses Kombinationskonstrukts aus Skulptur, Malerei, Architektur und Szenografie.

Skurriler Humor und Liebe zu Material, das auch Abfall sein könnte: Phyllida Barlow beim „Breach“-Aufbau Anfang Oktober Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum; Courtesy Phyllida Barlow and Hauser & Wirth

Die andere, man ist geneigt, sie eher als Rückseite zu lesen, ist homogener, geschlossener und in starken Farben gehalten. In der Höhenentwicklung greifen aufragende Teilen hier bis knapp unter die Hallendecke; nicht als aggressive Verletzung, sondern um den Blick auch nach oben zu lenken, die Grenzen des Raumes zu empfinden. Getragen von stabilen Holzpfosten, hat unter Barlows Regie ein Wucherungsprozess um sich gegriffen, der, hätte man es ihm erlaubt, in weitere Teile des Museums auszuufern in der Lage gewesen wäre – ganz wie Schwitters’Merzbauten in seinem Wohnhaus in Hannover, in Schweden oder an den Orten seines englischen (!) Exils.

Schwitters selbst bezeichnete sie als Kathedrale oder Gesamtkunstwerk, spürend, dass sie Obsession, Unvollendetes seien, aber nie fertig realisiert. In diesem Sinne hat sich nun auch Phyllida Barlow aus ihrem Arbeitsprozess in Hannover verabschiedet und ihre Arbeit hinterlassen – vertrauend auf ein Publikum, das dieses nicht zu vollendende Werk weiter vervollständigt: durch aktive Erfahrung, Inspektion, Imagination.

Phyllida Barlow: Breach, Kurt-Schwitters-Preis 2022: bis 19. 3. 23, Hannover, Sprengel-Museum