Nischen vietnamesischer Ökonomie

Statt wie früher Textilien verkauft die Community jetzt Blumen – oder betreibt Restaurants

Jüngere Vietnamesen verdrängen mit ihren Geschäften die erste Generation der Einwanderer

Von Marina Mai

Man sieht sie immer seltener: Die Marktstände und kleinen Läden, in denen Vietnamesen Textilien verkaufen. Selbst die Verkaufswagen, die in vielen Dörfern im Osten Deutschlands standen, an denen sich bis vor wenigen Jahren ältere, wenig mobile Dorfbewohnern einmal pro Woche Schürzen, Unter- und Nachtwäsche besorgen konnten, sind verschwunden,

Dabei waren der Handel mit Textilien sowie mit Obst und Gemüse einst eine Domäne vietnamesischer Zuwanderer. Um das zu verstehen, muss man in die Zeit ab 1990 zurückgehen. Die ehemaligen Vertragsarbeiter der DDR waren in der Regel die ersten, die ihre Jobs in den DDR-Betrieben verloren. Aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage, aber auch wegen ihrer schlechten deutschen Sprachkenntnisse hatten sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chance.

Um zu überleben, bauten sie Verkaufsstände an Bahnhöfen und auf Wochenmärkten auf, die anfangs oft mit Tapeziertischen improvisiert waren. Dabei kam ihnen eine Klausel im Einigungsvertrag zugute: Anders als anderen Zuwanderern war es ihnen erlaubt, eine wirtschaftlich selbständige Tätigkeit auszuüben.

Im Laufe der 1990er Jahre entstand so ein Netzwerk aus Einzel- und Großhändlern. Andere Vietnamesen spezialisierten sich auf Werbematerialien, Steuerberatung oder Kassensoftware für ihre Landesleute. Für viele war diese ethnische Ökonomie ein Wohlfühlbereich, in dem sie mit ihrer Muttersprache und mit ihren traditionellen Regeln durchkamen.

Da bis 1997 das Aufenthaltsrecht der ehemaligen Vertragsarbeiter unsicher war und auch danach noch viele glaubten, nicht auf Dauer in Deutschland zu bleiben, waren die Geschäfte oft nicht auf Dauer angelegt. Fortbildungen fanden nicht statt.

Dennoch ging es der Branche in den 1990er Jahren immer besser, denn in Vietnam entwickelte sich eine Textilindustrie. Durch verwandtschaftliche Kontakte gelang es, die Billigware aus der Heimat zu importieren. Es entstanden die asiatischen Großhandelszentren wie das Dong-Xuan-Center in Berlin, aber auch kleinere Märkte in Erfurt, Chemnitz und Leipzig.

Doch zehn Jahre später war dieses Geschäftsmodell am Ende. Neu entstandene Billigketten importierten dieselben preiswerten Textilien aus Vietnam und verkauften sie in festen Verkaufsräumen mit Umkleidekabinen und Umtauschrecht. Der vietnamesische Textilhandel ging in den Nullerjahren zugrunde.

Ausnahmen von der Regel kann man heute beispielsweise in Rostock-Warnemünde sehen. An der Promenade am Strom haben junge Vietnamesinnen, die in Deutschland aufgewachsen sind und als Kinder quasi in den Läden ihrer Eltern groß wurden, mehrere Touristenshops übernommen. Sie verkaufen Pullover im Marinelook und hochwertige Leinenkleidung an Badetouristen. Sie können die Kunden individuell beraten. Nichts mehr mit billig. Und das funktioniert.

Nach dem Ende des Textilhandels in den Jahren nach 2000 haben Vietnamesen der ersten Einwanderergeneration, die heute um die 60 sind, andere Branchen übernommen: Sie verkaufen Blumen, betreiben Restaurants, Bis­tros und Nagelstudios. Alles in Selbstausbeutung mit Sechstagewoche und nicht selten Arbeitstagen über zehn Stunden.

Auch hier haben inzwischen etliche von ihnen zu Großhändlern aufsteigen können. Vom Ertrag ihrer Arbeit können sie unterschiedlich gut leben. „Nagelstudios und Blumenläden laufen in Berlin oft gut“, sagt Thanh Nguyen, der in der Hauptstadt beratend in der ethnischen Ökonomie tätig ist. „Aber es kommt sehr darauf an, in welcher Lage man das Geschäft hat, wie die Kaufkraft dort ist.“

Dazu komme, dass jüngere Vietnamesen, die erst vor Kurzem gekommen sind, mit ihren Geschäften zunehmend die erste Einwanderungsgeneration verdrängten. Sehr unterschiedlich sei die Situation der Gastronomieunternehmer, sagt Thanh Nguyen. Angesagte Szenerestaurants liefen besser als viele der Imbissstände.

Nicht so gut ist die Situation in kleineren Orten. Eine Beraterin in einer sächsischen Kleinstadt, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt, dass dort in diesem Jahr die kleinen Bistros unter den hohen Strom- und Gaspreisen leiden, weil sie viel Energie verbrauchen und auf Kunden mit schmalem Geldbeutel spezialisiert sind.

Sie weiß von ehemaligen Geschäftsinhabern, die über Jahre ergänzende Sozialleistungen bezogen. „Irgendwann hat das Jobcenter gesagt: Du musst den Laden zumachen. Du musst Deutsch lernen und dir eine andere Arbeit suchen.“

Solche Leute würden heute bei McDonalds oder als Putzkraft arbeiten, sagt die Frau. „Aber es gibt andere, die um jeden Preis an der Selbständigkeit festhalten, weil sie im Alter um die 60 nicht mehr putzen gehen können.“ So beispielsweise die Familie mit dem Obst- und Gemüseladen in ihrer Kleinstadt. „Der Sohn hat studiert. Er hat eine gute Arbeit in Berlin. Und wenn die Energienachzahlung für den Laden fällig ist, dann schickt er das dazu nötige Geld.“