Ist die Schweinegrippe-Impfung hysterischer Quatsch?

IMPFUNG Ab Ende September soll in Deutschland der Impfstoff gegen das Schweinegrippevirus H1N1 zur Verfügung stehen. Risikogruppen rät die Regierung zur Impfung - immerhin forderte die neue Influenza weltweit bereits über 2.000 Menschenleben. Dennoch raten manche Experten von der Schutzimpfung ab: zu hoch sei das Risiko auf Nebenwirkungen, zu wenige Testpersonen hätten den Stoff erhalten.

250.000 Menschen haben sich weltweit mit dem H1N1-Virus infiziert. Um die deutsche Bevölkerung vor der neuen Grippe zu schützen, haben die Bundesländer nun 50 Millionen Impfstoffdosen bestellt. In wenigen Wochen können sich zunächst Menschen aus den Hauptrisikogruppen - Schwangere, chronisch Kranke und sogenanntes Schlüsselpersonal - impfen lassen.

An einer saisonalen, normalen Grippe erkranken jährlich zwischen drei und fünf Millionen Menschen, bis zu 500.000 sterben daran. An der Schweinegrippe ist in Deutschland bislang noch niemand gestorben, selbst die WHO schätzt den Verlauf der Grippeausbreitung in Deutschland als eher moderat ein. Ist es nötig, sich dennoch impfen zu lassen?Kritiker verweisen auf unzureichende Tests bei der Produktion des Impfstoffes gegen das H1N1-Virus. Zu hoch seien im Moment noch die Risiken auf unerkannte Nebenwirkungen.

Zudem halten Kritiker den Druck auf die Bevölkerung zur Impfung für Panikmache. Zu früh wurde die Schweinegrippe zur Pandemie erhoben, zu schnell auf vorhandene Impfstoffe verwiesen. Alles nur Angstschüren aus Profitgier der Pharmaindustrie?

Was meinen Sie – ist die Impfempfehlung nur eine von der Pharmaindustrie geschürte Hysterie?

Ja

Wolfgang Becker-Brüser, 60, gibt das „Arznei-Telegramm“ heraus

Bereits wenige Tage, nachdem die ersten Erkrankungen an Schweinegrippe in Mexiko diagnostiziert wurden, bezeichnet der Berater der britischen Regierung, Sir Roy Anderson, die Viruserkrankung als eine sich weltweit ausbreitende Infektionskrankheit (Pandemie). Gleichzeitig betont er, dass zur Behandlung „zwei effektive antivirale Mittel“ zur Verfügung stehen. Was er nicht mitteilt, ist, dass er jährlich umgerechnet 136.000 Euro als Lobbyist von GlaxoSmithKline bezieht – dem Produzenten des Schweinegrippe-Impfstoffs Pandemrix. Erst am 11. Juni 2009 – 45 Tage nach Bekanntwerden der ersten Infektion – erklärt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Schweinegrippe zur Pandemie. Die ersten 50 Millionen Dosierungen des Schweinegrippeimpfstoffs – ausreichend für 25 Millionen Menschen – wird bei gegenwärtigem Kenntnisstand GlaxoSmithKline liefern. Die geplante Impfaktion soll in Deutschland mindestens 700 Millionen Euro verschlingen – zu viel Geld für einen zweifelhaften Impfstoff: Der enthält eine Wirkverstärkermischung, die noch nie zuvor in einem handelsüblichen Impfstoff verwendet worden ist und die erwünschten und unerwünschten Effekte verstärkt. Zudem: Bislang verläuft die Schweinegrippe in der Regel milde. Der bedenkliche Großversuch einer Massenimpfung lässt sich unter den gegebenen Umständen nicht rechtfertigen.

Monika Niehaus, 60, Ärztin und Sprecherin des Verbands für Kinder- und Jugendärzte Thüringen

Man rechnet im Herbst mit einer Zunahme der Erkrankungen an Schweinegrippe, besonders unter Kindern und Jugendlichen. Bisher gab es jedoch keine lebensbedrohlichen Krankheitsverläufe bei gesunden Menschen. Außerdem stehen Medikamente zur prophylaktischen und therapeutischen Anwendung zur Verfügung. Ich halte deshalb eine Massenimpfung gegen die Schweinegrippe gegenwärtig nicht für notwendig. Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, gegen die saisonale Grippe zu impfen, um Doppelinfektionen zu vermeiden. Die gegenwärtige Hysterie ist unbegründet. Aber die Möglichkeit zur Impfung sollte vorhanden sein.

Cornelia Goesmann, 57, aus Hannover, ist Vizepräsidentin der Bundesärztekammer

Umfragen unter medizinischem Personal und in der Bevölkerung ergeben derzeit in beiden Gruppen durchgängig, dass diese nur wenig bereit sind, sich impfen zu lassen. Die Deutschen und vor allem die Beschäftigten in medizinischen Betrieben erleben die Realität der „Schweinegrippe“ offenbar unisono als hysterische Panikmache ohne fassbaren Hintergrund, da die Zahl ernsthaft Erkrankter verschwindend gering blieb. Ebenso ungewiss ist die Indikation zur geplanten Massenimpfung – das tatsächliche Eintreffen einer schweren Epidemie mit mutierten Viren. Der Eindruck beschleicht nicht nur einen Großteil der Ärzteschaft, hier würden bis zu einer Milliarde Euro verschleudert, die im Gesundheitswesen an anderer Stelle dringender gebraucht werden. Auch entsteht der Verdacht, dass die Interessen der Pharmaindustrie durch ihre Lobbyisten wieder einmal gut bedient werden. Meine Meinung: Eine weitgehende Durchimpfung der Gesamtbevölkerung ist nicht sinnvoll – die Impfung von Risikogruppen aber durchaus.

Peter Böhm, 52, Heilpraktiker und Biologe, hat seinen Beitrag auf taz.de gestelltKein hysterischer Quatsch, sondern Marketingstrategie! Schon einige Jahre werden in der Bundesstatistik nicht mehr die Grippetoten ausgewiesen (zuvor waren es max. 900 pro Jahr), sondern Lungenentzündungstote dazugezählt. Alle Medien berichten jetzt von 10.000 bis 20.000 Toten durch Grippe – genial! Für eine derartige Bedrohung können wir doch schnell mal eine Milliarde locker machen, oder?

Nein

Reinhard Burger, 60, ist Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts für Infektionskrankheiten

Bereits sechs Wochen nach dem ersten Auftreten des Schweinegrippevirus in den USA fand sich das Virus praktisch in allen Regionen der Welt. So schnell hat sich noch nie ein Influenzavirus ausgebreitet! Die allermeisten Menschen verfügen über keine Immunität gegen das neue Virus. Es wird leicht von Mensch zu Mensch übertragen. Die Weltgesundheitsorganisation schließt nicht aus, dass bis zu 30 Prozent der Weltbevölkerung betroffen sein werden. H1N1 trägt derzeit zwar das Etikett „mild“, in der Tat verläuft die Mehrzahl der Infektionen leicht. Es kommt jedoch bei einem kleinen Teil der betroffenen Patienten zu schweren Verläufen, auch zu Todesfällen. Selbst junge, gesunde Menschen sind von Todesfällen betroffen, genauso Schwangere. Deutschland blieb von Todesfällen bisher verschont. Die Fachleute erwarten jedoch in der Influenzasaison, also im Winter, einen deutlichen Anstieg der Infektionen. Damit steigt auch die Zahl der schweren Verläufe. Influenzaviren verändern leicht ihr Erbgut, möglicherweise auch hin zu einer stärker krankmachenden Variante. Eine einzige Mutation genügt, um Resistenz gegenüber einem antiviralen Medikament auszulösen. Bei einer kritischen Bewertung ist ein Land gut beraten, wenn es hier Vorsorge trifft, also Impfstoffvorräte anlegt und Impfungen vorbereitet. Umgekehrt sollte jeder Einzelne durch persönliche Hygiene das Infektionsrisiko verringern. Es wäre leichtfertig, dieses Virus abzuschreiben als mildes Virus und die Hände in den Schoß zu legen. Wir müssen vorbereitet sein für den Zeitpunkt, an dem es schlimmer wird als mild.

Johannes Löwer, 64, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts für Arzneimittelzulassung in Deutschland

Influenzaviren sind besondere Viren. Um sich einer Immunantwort entziehen zu können, ändern sie die durch unser Immunsystem attackierten Bausteine ihrer Oberfläche stetig. Deshalb schützt eine einmal durchgemachte Infektion nicht zuverlässig, und der Impfstoff muss jedes Jahr angepasst werden. Zudem muss die Impfung jedes Jahr wiederholt werden. Influenzaviren können ihre Oberflächenbausteine auch sprunghaft ändern. Dann besteht keine Vorerfahrung mit verwandten Viren, kein Immunschutz in einer Population. Ist das Virus dann auch gut von Mensch zu Mensch übertragbar, dann kommt es zu einer Pandemie, bei der weltweit viel mehr Menschen infiziert werden als im Winter üblich. Diese Bedingungen sind für das Neue Influenzavirus A(H1N1) gegeben. Influenzapandemien sind in der Vergangenheit immer wieder aufgetreten. Daher wird seit einer Reihe von Jahren, initiiert von Virologen, unterstützt von der WHO, daran gearbeitet, Konzepte für Impfstoffe zu entwickeln, die auch unter den besonderen Voraussetzungen einer Pandemie wirksam und verfügbar sind. Diese Konzepte wurden nach den Regeln der Kunst getestet und schließlich von den Behörden zugelassen. Darauf basierend wird nun geprüfter Impfstoff vor der erwarteten Krankheitswelle im Herbst zur Verfügung stehen. Er sollte, da die Mengen vorerst begrenzt sein werden, klug dort eingesetzt werden, wo er den größten Nutzen hat: bei Personen mit hohem Risiko für schwere Krankheitsverläufe und bei denen, die für die Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens und anderer Einrichtung zu unserer Sicherheit notwendig sind.

Wulf-Hinrich Storch, 61, Facharzt für innere Medizin, hat seinen Beitrag auf taz.de gestellt

Hysterisch sind hier wohl nur die Verschwörungstheorien von Impfgegnern zu nennen. Tatsächlich ist der Verlauf der Schweinegrippe zurzeit ja eher harmlos, obwohl die Ausbreitung untypisch bereits schon in der warmen Jahreszeit erfolgt. Problematisch ist, dass gegen diesen Grippetyp keine Grundimmunisierung in der Bevölkerung besteht. Statt sich jetzt durch eine Ansteckung vor einer späteren, potenziell schlimmeren Verlaufsform zu schützen, wie angeblich jemand aus dem taz-Forum versucht hat, ist dann doch ein Totimpfstoff vorzuziehen, auch wenn dieser Vorschlag für dieses Forum vielleicht zu rational ist.