FELIX LEE ÜBER POLITIK VON UNTEN
: Virtuell atmet‘s sich länger

Onlinepetitionen können mit Demos durchaus mithalten. Denn wer einmal registriert ist, ist immer mobilisierbar

Der Gorleben-Treck hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Über hundert Traktoren aus dem niedersächsischen Wendland sind seit einer Woche unterwegs, um wie beim legendären ersten Gorleben-Treck vor 30 Jahren gegen das Atommülllager im Wendland und für den Atomausstieg zu demonstrieren. Damals waren es auf der Abschlusskundgebung in Hannover 100.000 – die bisher größte Anti-Atom-Demo in diesem Land. Beim Abschluss an diesem Samstag in Berlin werden es wohl nicht ganz so viele sein. Die 100.000-Marke soll dennoch geknackt werden, und zwar im Internet.

Bis Mitte der Woche haben 99.830 Bundesbürger die Erklärung der Onlineplattform Campact unterschrieben, in der die Bundesregierung zum Atomausstieg aufgefordert wird. Rechtzeitig zur Wahl soll diese Unterschriftenliste bundesweit in mehreren Tageszeitungen veröffentlicht werden.

Man mag die Onlinepetition als kleckerliche Form der Unmutsbekundung abtun, die den Adressaten zumindest nicht unmittelbar schmerzt. Und doch stellt sich die Frage, ob der Protest im Internet in seiner Wirkung nicht trotzdem mit dem herkömmlichen Straßenprotest mithalten kann. Ja, kann er. Der Erfolg eines Protests bemisst sich nicht zuletzt daran, ob es gelingt, politisch so viel Druck zu erzeugen, dass die gestellten Forderungen erfüllt werden. Das braucht in der Regel seine Zeit.

Eine Großdemo hat den Nachteil, das sie allein aus organisatorischen Gründen nicht ständig wiederholt werden kann. Verfügen die Adressaten, an die sich der Protest wendet, über ausreichend Sitzfleisch, verpufft der Widerstandsgeist in der Regel bei vielen Protestwilligen wieder. Beim Onlinewiderstand hingegen bedeutet jeder registrierte Eintrag auf dem Protestportal einen mündigen Bürger mehr, der über die entstandene Vernetzung regelmäßig über die nächste Panne an einem Meiler oder das Unvermögen der Politiker bei der ungeklärten Endlagerfrage informiert werden kann.

Zugegeben: Eine Fahrt zur Demo nach Berlin ist um ein Vielfaches aufwändiger, als für fünf Minuten eine Onlinemaske auszufüllen. Als qualitativ kraftvoller wird der Straßenprotest von der Allgemeinheit bewertet. Den schnelleren Atem aber, den hat der virtuelle Protest.

■ Der Autor ist taz-Redakteur für soziale Bewegungen Foto: Wolfgang Borrs