Ein kurzes Wochenende der Anarchie

WIDERSTAND UND ADOLESZENZ Jo Lendle blockiert in seinem zweiten Roman Atommülltransporte vor Gorleben und singt der BRD das Abschiedslied: „Mein letzter Versuch, die Welt zu retten“

Kinder aus gutem Haus, im Gepäck ein Gemenge aus Revoluzzertum und bürgerlichem Wertekanon

VON CHRISTIANE PÖHLMANN

Sieben Freunde brechen 1984 auf, der guten Sache zu dienen und an der Wendlandblockade teilzuhaben. Zur Tarnung sind der VW-Bus der Kirchengemeinde, die Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ und bürgerliche Kleidung zur Hand. Letztere soll mit Krawatten abgerundet werden, doch scheitert’s am Knoten, die Jugendlichen haben keine Übung darin. Die Fahrt ist auch und vor allem eine Initiation, und von ihr sollen nur sechs zurückkommen. Florian, der Ich-Erzähler, stirbt.

Wir lauschen also einem Bericht aus dem Jenseits. Doch nicht nur das macht Florian zur Kunstfigur. Er ist gleichsam bipersonal angelegt, vereinigt in sich den naiven 17-Jährigen und den abgeklärten Erwachsenen, der in der Retrospektive den Jungen kommentiert. Während der eine gerade noch Ostereier gesucht hat, mit durchaus heiligem Ernst die Verkleidung anlegt und sich Bedeutung wünscht, kann der andere festhalten: „Wir waren unbeirrbar und entschieden, das machte uns gefährlich.“

In diese Figur dürfte viel Autobiografisches eingeflossen sein, denn Lendle, heute 41 Jahre alt und Verlagslektor (bei Dumont), war dereinst selbst in Gorleben dabei. Seine Sprache wird dem 17-Jährigen gerecht, schafft gleichzeitig aber Distanz zum Geschehen; mal bricht sich Poesie Bahn, dann sind Straßen „mit Dunkelheit und Stille glasiert“, mal wartet sie kokett mit Patina auf, dann „wirft man sich in Schale“. Und nie werden die Herren mit Schlagstock und Schild Bullen genannt.

Es sind Kinder aus gutem, aus politisch korrektem Haus, die sich aufmachen, die Welt zu retten. Es sind maßvolle Kinder, die nicht den ganzen Wald, sondern nur ausgewählte Bäume vorm Fällen bewahren (so viel zur Entschiedenheit). Das Gepäck, das sie schultern müssen, ist ein unausgegorenes Gemenge aus Revoluzzertum und bürgerlichem Wertekanon. Ihre Eltern halten sämtliche linksalternativen Positionen besetzt, selbst sexuell sind sie freier. Es ist ein Hase-und-Igel-Spiel, das die Kinder jedes Mal verlieren. Nach der Erinnerungswelle vom letzten Jahr werden hier die 68er selbst befragt. Florian geht mit ihnen längst nicht so hart ins Gericht wie mit der eigenen Generation. Nur einmal bricht es aus ihm heraus, als sein Vater ihm die erste Nacht mit seiner Freundin vermasselt, indem er mit deren Mutter in die Kiste geht, da „stahlen sie uns zu guter Letzt auch noch unsere Pubertät“.

Die Aktion wird gründlich vorbereitet, die Gegend per Karte memoriert; Florian bastelt ein Gesellschaftsspiel, damit probt die Gruppe nächtelang am Wohnzimmertisch den politischen Widerstand.

Das Wendland erweist sich als hermetischer Raum für den Feldversuch „Widerstand und Adoleszenz“. Florian erlebt ein kurzes Wochenende der Anarchie. Im Zeitraffer durchläuft er Reifeprozesse, radikalisiert sich, sieht den Zerfall seiner Gruppe, die zunehmende Gewaltbereitschaft, die aus ihm, dem Peacenik, einen Jungen macht, der einen Polizeihund erschießt. Die Eskalation hat viele Ursachen: Übermacht und Willkür der Polizei, kindliche Wild-West-Fantasien, den Wunsch nach Beachtung. Lendle zeichnet eher ein Psycho- denn ein Soziogramm.

Die meisten aus der Gruppe ziehen sich an diesen beiden Tagen Blessuren zu, körperliche wie seelische. Kunstvoll verwebt Lendle die Ebenen von Imagination und Realität, um den Raum immer klaustrophobischer zu gestalten. Durch einen geschickten und bildsprachlich überzeugenden Parallelismus versteht er es, aus dem Spieler Florian die Spielfigur zu machen, die auf dem Grenzzaun zur DDR den Tod findet. Angesichts der Unsterblichkeit, die er erhält, scheint der Tod ein fairer Preis, um den Folgen des eigenen Tuns ebenso zu entgehen wie der schmerzhaften Suche nach einem lebbaren Kompromiss. Florian spaltet sich von seiner Generation ab und richtet sich in der Position ihres Kritikers ein. So ironisch er sonst berichtet, hier wird er pauschal. Das Undifferenzierte dieser Kritik, nicht ihre Schärfe ist zu beklagen, da tönt zuweilen der Elch im Hintergrund.

Es stecken viele Geschichten in den 250 Seiten: Pubertät, APO, Gewaltfrage, die alte BRD. Ohne jede Nostalgie entwirft Lendle das Bild einer Zeit, in der unbeschwert geraucht wurde, politische Gegner ein „Geht doch nach drüben!“ an den Kopf geknallt bekamen und die Bezeichnung einer schaumgefüllten Süßigkeit ein Politikum darstellte. Auf das Wendland folgte Tschernobyl, das sich eher in Panik als in Widerstand entlud, der Volkszählungsboykott und schließlich das Jahr 1989. Ob damit auch die Zeit jener gesichtslosen Gestalten anbrach, von denen eine das Cover ziert – die Frage wäre durchrauchte nächtliche Diskussionen wert.

Florian und seine Freundin haben ein Spiel: einer guten Fee drei Wünsche zu nennen. Wie könnten drei Wünsche bei einem Buch lauten? Eine ansprechende Story. Eine bedachte Sprache. Anregende Sichtweisen. Lendle erfüllt sie alle drei.

Jo Lendle: „Mein letzter Versuch, die Welt zu retten“. DVA, München 2009. 256 S., 19,95 €