Der große Ausstand

Busfahrerinnen, Krankenpfleger, Postangestellte: In Großbritannien wird gestreikt. Ein Besuch bei den Streikposten

Zum ersten Mal in ihren Leben im Streik: Kinderkrankenpflegerin Laura Tossell

Aus London Daniel Zylbersztajn-Lewandowski (Text und Fotos)

Rufe im Chor ertönen vom Haupteingang des Londoner Great Ormond Street Hospital, das auf Kindermedizin spezialisiert ist. Auf einem Tisch gibt es Tee und Snacks zur Stärkung. Laura Tossell, 29, steht mit einem Schild dicht gedrängt neben etwa 100 anderen Kinderkrankenpfleger:innen, die dort am Mittwoch vor Weihnachten streiken. Sie zählt auf, was sie stört: Unterbesetzung, Überarbeitung, immer schlechtere Arbeitsbedingungen, immer knapper werdendes Geld. „Uns bleibt wenig, obwohl wir bis an unser Limit bei der Arbeit gehen. Wir arbeiten sogar in unseren Pausen.“ Und es seien nicht nur die Angestellten, die davon betroffen seien. „Unsere kleinen Pa­ti­en­t:in­nen leiden am meisten darunter, weil wir nie genug Zeit für sie haben.“

In Wales und England streiken an diesem Tag 100.000 Kran­ken­pfle­ge­r:in­nen für mehr als die von der Regierung gewährte knapp vierprozentige Lohnerhöhung. Und sie sind nicht allein. Im Vereinigten Königreich sind gerade viele Beschäftige des öffentlichen Diensts im Streik. Bahnlinien liegen brach, die Post wird nicht zugestellt.

Laura Tossell streikt zum allersten Mal in ihrem Leben. In der Klinik seien Kolleg:innen, die während des Streiks das Notwendigste übernehmen würden. „Wir lassen keine Pa­ti­en­t:in­nen im Stich.“ Und dann konstatiert sie nüchtern: „Ich frage mich, ob ich mir die richtige Karriere ausgesucht habe, wenn man so hart für so wenig Geld arbeitet!“ Einen Jobwechsel schließt sie nicht aus. Sie wäre nicht die Erste. „Selbst wenn wir diesen Kin­der­kran­ken­fle­ge­r:in­nen doppelte Gehälter zahlen würden, ist es immer noch zu wenig“, findet der Rechtsanwalt, der gerade mit seinem Sohn aus dem Krankenhaus kommt.

Der Besuch am nächsten Tag beim streikenden Londoner Rettungsdienst im Stadtteil Islington ist atmosphärisch ein Kon­trast zur Kinderklinik. Die Garage der Zentrale, in der die Krankenwagen stehen, liegt in einem Industriegebiet. Davor stehen 20 Angestellte, ohne zu singen oder zu skandieren. Alle tragen Dienstkleidung. Es ist ihr größter Streik seit 30 Jahren. Um Notrufe, bei denen es um Lebensgefahr geht, kümmern sie sich weiterhin.

Wer an allem schuld habe? Die Tories, sagt einer

Esther Matthews fuhr Reisebusse, dann kam die Pandemie

Gewerkschaftsvertreter Terry Stubbs, seit 26 Jahren im Rettungsdienst, erzählt in ruhigem Ton, worum es geht. „Um den Arbeitsdruck, die langen Wartezeiten, die fehlenden Investitionen und natürlich um unsere Gehälter.“ Was sie innerhalb der letzten zehn Jahre an Lohnerhöhung bekamen, gleiche einer Lohnsenkung. „Als ich vor 26 Jahren anfing, gab es 1.100 Notrufe, heute sind es 7.000 pro Tag, ohne dass wir ausreichend Krankenwagen oder Personal haben. Und wenn wir endlich im Krankenhaus ankommen, müssen wir oft stundenlang mit Pa­ti­en­t:in­nen warten.“ Stubbs ist 59 Jahre alt und will noch bis zur Rente durchhalten. Wer an allem schuld habe? Für Terry ein klarer Fall: Die Tory-Regierung! „Sie können den öffentlichen Dienst nicht leiden und sparen ihn kaputt, um zu privatisieren“, glaubt er.

Im kalten Regen sitzt in Londons Stadtmitte vor dem Mount Pleasant Depot eine Gruppe streikender Postangestellter der Royal Mail, auf Gartenstühlen, mit Gewerkschaftsfahne und einer Gasheizung. Nebenan hat die Royal Mail nach ihrer Privatisierung ein Wohngebiet bauen lassen. Die Postangestellten haben es jeden Tag vor Augen, ebenso wie die Tatsache, dass die Royal Mail 2022 einen Gewinn von 758 Millionen Pfund machte. Unter der Bedingung, dass die taz keine Namen nennt, reden sie. Die, die hier versammelt sind, haben im Durchschnitt 30 Jahre Dienst hinter sich. „Als ich anfing, waren wir 2.500 Angestellte, heute sind wir etwa 150.“ Trotz der hohen Gewinne sei dieser treue Rest dem Vorstand nicht mehr als zwei Prozent Lohnerhöhung wert. „Eine Unverschämtheit!“, schimpft einer. Es stünden ihnen mindesten zehn Prozent zu, allein wegen der Inflation.

Am Tag drauf, es ist der 23. Dezember, stehen im strömenden Regen auf einer Verkehrsinsel vor dem Londoner Heathrow Flughafen ein Dutzend Angestellte der Grenzschutzbehörde. Ihr Job sind die Passkon­trollen. Heute ist ihr erster Streiktag. Vorbeifahrende Autos und Busse hupen hin und wieder als Zeichen der Solidarität.

In ihre Regenjacke gehüllt, erinnert sich die Gewerkschaftsvertreterin Dawn Paul, 57, wie es war, als sie vor 17 Jahren in den Dienst eintrat. „Es wirkte wie ein Job mit großer Verantwortung.“ Verletzliche Personen schützen, Terroristen oder Sexualverbrecher von der Einreise abhalten, das sei spannend gewesen. Mit Beginn der Austeritätspolitik vor zehn Jahre wären die Ressourcen immer knapper geworden. „Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften, weil wir hauchdünn über dem Mindestlohn verdienen. Die meisten von uns hatten in den letzten zehn Jahren keine Lohnerhöhung.“

Dawn glaubt, man schätze ihre Arbeit zu wenig. Sie erzählt von einer Mitarbeiterin, die vor Kurzem dazu gezwungen war, ihr Haus zu verkaufen, weil sie mit der Inflation ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr stemmen konnte. Andere versuchten am Flughafen irgendwie etwas Essbares zu bekommen, berichtet ein Angestellter. Wegen des Personalmangels würden Viele Überstunden leisten. „Müdes Personal gefährdet die Sicherheit des Landes“, sagt Dawn.

Rettungssanitäter Terry Stubbs muss bis zur Rente durchhalten

Einer ihrer Kollegen verweist auf die zig Streiks, die Großbritannien in diesen Tagen stillstehen lassen: „Wir befinden uns womöglich vor einem riesigen Volksaufstand.“ Von den Rekordgewinnen bei Transport-, Energie- und Wasserunternehmen würden nur die Geschäftsführungen und Aktionäre profitieren. „Es reicht!“

Vor einer Busgarage im Südlondoner Stadtteil Walworth stehen an die 30 Bus­fah­re­r:in­nen von Abellio. Es ist eines von einem Dutzend Unternehmen, die sich in London die privatisierten Busaufträge teilen. Die Bus­fah­re­r:in­nen – alle sind Schwarz oder People of Colour – glauben, dass sie bei Abellio einen der schlechtesten Deals in London haben. Esther Matthews ist noch nicht lange dabei. „Ich fuhr vorher Reisebusse, aber als die Pandemie kam, reiste niemand mehr, es blieb nur noch der Stadtbus.“ Auch hier herrscht Personalmangel. „Unsere Schichten können zwölf, ja sogar vierzehn Stunden dauern. Wenn du einen Fehler machst, wirst du sofort gefeuert.“ Die Krönung sei, dass man binnen zwölf Jahren den Lohn nur um vier Prozent erhöht habe.

An Weihnachten folgte landesweit ein Bahnstreik. Nach Silvester wird es weiter gehen, auch Leh­re­r:in­nen und Phy­sio­the­ra­peu­t:in­nen wollen streiken. Noch scheint die Regierung beim harten lohnpolitischen Kurs zu bleiben. Premierminister Rishi Sunak gab an, das Wichtigste sei die Bändigung der Inflation.