Bilder eines anstrengenden Jahres

Von Menchelndem bis Medienreflexion: Die aktuelle Jahresabschlussausstellung des Braunschweiger Museums für Photographie interessiert sich für „Seitenblicke“

„Kreuz-fahrt, Venedig“ (2018) Foto: Brigitta Feulner

Von Bettina Maria Brosowsky

Als eine Aneinanderreihung von Katastrophen werden viele das vergangene Jahr empfunden haben. Kaum schien es, ganz zu Beginn, als hätte Corona durch Zweit-, Dritt- und Viert-Impfungen deutlich an Schrecken verloren, da begann am 24. Februar der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Selbst westeuropäische Komfortzonen bekommen durch gestiegene Energiepreise die Folgen zu spüren. Empfindsamere Zeit­ge­nos­s:in­nen finden ihre oft schöngefärbten Kultur- und Wertevorstellungen im freien Fall; eingefleischte Grüne oder auch Linke sehen sich aufgefordert, bislang nicht für möglich gehaltene Bekenntnisse abzulegen zu Waffenlieferungen und gigantischer Aufrüstung. Und im Iran wie in der Ukraine kämpfen derweil mutige Menschen für Recht und Freiheit, glauben an den demokratischen Westen – selbst wenn der sie ja schon oft genug im Stich gelassen hat.

Wie lässt sich so ein Jahr künstlerisch reflektieren? Dieser Anspruch schwingt nämlich stets mit, wenn das Braunschweiger Museum für Photographie zu seinem Jahreswechsel-Ritual lädt: seiner Mitgliederausstellung. „Seitenblicke. Aspekte des Miteinanders“ war diesmal das Motto, und 40 von insgesamt rund 150 Mitgliedern sind diesem Aufruf gefolgt. Ihre Ausstellung repräsentiert das breite Vereinsspektrum: von Amateur bis Profi, Alt und Jung; sie zeigt lokal Verwurzeltes und Internationales, wieder aufgegriffenes Älteres und ganz neu Erstelltes. Technisch reicht sie von statischer Fotografie über eine Projektion bis hin zu drei kurzen Filmen, konzeptionell von Menschelndem bis zur Medienreflektion.

Ganz frisch im Verein ist der italienische, in Wien lebende Bildjournalist, Kameramann und Fernsehproduzent Luca Faccio. Er hat weltweit Diktaturen im Blick, verfasste etwa für die Deutsche Welle eine Reportage über Nordkorea, die erstaunliche private Einblicke in das rigide durchkontrollierte Land erlaubte. Und er bereist immer wieder Länder im Kriegszustand, so 2022 auch die Ukraine. Eine Bildfolge beschäftigt sich mit ersten Zivilist:innen, die nach Irpin oder Borodjanka zurückkehren – Orte, die für das Grauen systematischer Folter und Ermordung stehen.

Faccio gelingt die professionelle Gratwanderung zwischen dokumentarischer Distanz und dem titelgebenden empathischen Seitenblick. Selbst wenn ihre individuellen Handlungen zu irritieren vermögen – etwa die ältere Frau, die meint, um einen zerstörten russischen Panzer herumkehren zu müssen –, entlarvt Faccio sie nicht in ihrer traumatischen Hilfslosigkeit. Er selbst sieht sich in der Tradition einer „humanistischen Fotografie“ mit erklärt philosophisch- aufklärerischem Anspruch.

Roberta Bergmann will der Suggestion entgegenwirken, nur junge, gut aussehende Menschen seien eines Blickes – und Fotos – wert

Ebenfalls in diesem Jahr nahm sich die Kölner Fotografin und Musikerin Ina Bichescu das „wilde Kurdistan“ vor, war in dessen irakischen Teil und fand Bilder für die Gastfreundschaft der Menschen und die Schönheit der Natur. Aus ferner Destination, und wiederum 2022 aufgenommen, stammt auch das Foto von Leon Hofmann: ein mehrgeschossiges, abgeschottet wirkendes Wohnhaus in Seoul – und das einfache, pralle Leben im Straßenlokal vor der Haustür.

Menschliche und soziale Dissonanzen finden sich aber auch hierzulande. Da wären etwa Obdachlose, die meist nur eines scheuen Seitenblicks für würdig gehalten werden, wie Renate Fink feststellt. Sie nahm in München drei Bilder auf; dort leben laut Erhebungen etwa 1.000 Menschen auf der Straße und rund 9.000 in entsprechenden Unterkünften. Statt sie zu rahmen entschied sich Fink, ihre Schwarz-Weiß-Drucke auf Pappreste aufzuziehen: Der sozial ausgeschlossenen Gruppe dient das ähnlich achtlos behandelte Material oft als Witterungsschutz oder auch improvisierte Behausung.

Menschen, die sich vor einem ausgestellten Bild fotografieren, fotografiert und ausgestellt: „Mit der Mona Lisa im Louvre von Paris“ (2012) Foto: Axel Grüner

Randständiges isoliert die Gesellschaft gern auch in die Psychiatrie, der Sina Bluhm ein atmosphärisches Fotobuch widmet, oder, im Alter etwa, in ein passendes Heim: Während ihres Studiums an der Braunschweiger Kunsthochschule begleitete Roberta Bergmann 2001 den Alltag einiger Heimbewohner:innen; für die Ausstellung hat sie drei Porträts einer inzwischen Verstorbenen neu ausgearbeitet. Sie will damit der verbreiteten Suggestion entgegenwirken, nur junge, gut aussehende Menschen seien eines Blickes – und Fotos – wert.

Axel Grüner entlarvt wiederum in einer kleinen Serie den Selfie-Kult der jungen Schönen. So fotografierte er 2012 zwei Japanerinnen, die sich im Louvre vor der Mona Lisa in Szene setzen. Gemeinsam hängen die drei Damen nun in einem anderen Museum, sagt Grüner süffisant und spinnt die Szene weiter: „Womöglich wurde ich ja beim Fotografieren der beiden Fotografierenden selber unbemerkt fotografiert.“ Das wäre dann zumindest das perfekte Gleichnis für eine latente Selbstreferenzialität, die dem Medium ja zu eigen ist.

Mitgliederausstellung „Seitenblicke. Aspekte des Miteinanders“: bis 15. 1., Museum für Photographie Braunschweig