Gaga-Wahlkampf in Berlin-Marzahn: Abgehängt mit Gunnar

Marzahn-Nord hat viele Probleme – und auch noch Gunnar Lindemann (AfD) als Abgeordneten. Linke und SPD wollen ihm nun sein Direktmandat abluchsen.

Rückt sich gerne ins rechte Licht: Gunnar Lindemann (AfD) im Berliner Abgeordnetenhaus, Januar 2022, sitzt in einem Stuhl und macht von sich ein Selfie

Rückt sich gerne ins rechte Licht: Gunnar Lindemann (AfD) im Berliner Abgeordnetenhaus, Januar 2022 Foto: Stefan Zeitz/Imago

BERLIN taz | Das Plattenbaugebiet im Marzahner Norden am äußersten nordöstlichen Stadtrand ist im wahrsten Sinn des Wortes abgehängt. Die Wege in die Innenstadt dauern lange und sind ungemütlich. Am S-Bahnhof Ahrensfelde empfängt einen der beißende Gestank nach Urin und im Winterhalbjahr Dunkelheit. Die S-Bahnen fahren auf zwei unterschiedlichen Bahnsteigen in die Innenstadt ab, und es gibt keine Anzeige, wo die Bahn zuerst abfährt.

Für Autofahrer ist es nicht angenehmer, denn man muss sich in den Dauerstau zwischen den Brandenburger Berufspendlern einreihen. Aber auch sonst fehlt es an Infrastruktur. Ärzte fehlen in Marzahn-Nord ebenso wie preiswerte Lebensmitteldiscounter, Bäckereien, Drogerien und Kitaplätze. Die Sanierung der Schulen kommt nicht voran. „Die Menschen hier haben den Eindruck, vergessen zu werden“, sagt Gordon Lemm, der Bezirksbürgermeister, der sich für die SPD um das Direktmandat fürs Abgeordnetenhaus bewirbt.

Vor der Wiederholungswahl stellt sich im Wahlkreis Marzahn-Hellersodrf 1 die Frage: Kann ein demokratischer Politiker dem AfD-Rechtsaußen und jahrelangen Putin-Unterstützer Gunnar Lindemann das Direktmandat abnehmen? Der ist seit 2016 direkt gewählter Abgeordneter. Bei der Wahl 2021 verteidigte er sein Mandat mit nur 70 Stimmen Vorsprung vor Gordon Lemm und 292 Stimmen vor Björn Tielebein (Linke). 509 Wählern wurde kein Stimmzettel für die Erststimme ausgehändigt. Die Wahlbeteiligung lag unter 50 Prozent und war damit eine der geringsten berlinweit. „Der Ausgang hängt von der Wahlbeteiligung ab“, sagt Lemm.

Wer bei der AfD-Hochburg im Marzahner Norden aber an eine national befreite Zone denkt, liegt falsch. Schon in der dritten Generation wohnen hier zahlreiche Russlanddeutsche. Unter denen hat Lindemann zwar Anhänger, aber nicht alle Russlanddeutschen stehen auf AfD.

Eine beliebte Wohnadresse

Auch für vietnamesische Neuberliner ist der Marzahner Norden eine beliebte Wohnadresse, es gibt Vereine, die diese Gruppe unterstützen. Und in den vergangenen zehn Jahren haben viele Bewohner von Flüchtlingsunterkünften gerade hier wegen der niedrigen Mietpreise Wohnungen gefunden. In der Folge sind Shishabars und arabische Friseurgeschäfte entstanden. Letztere sind oft die einzigen Friseure überhaupt und haben die Infrastruktur ein wenig verbessert.

Im Winterwahlkampf dominiert für die Bürger ein Thema, das in der Innenstadt unbekannt ist: die fehlende Straßenbeleuchtung. Tielebein ist überrascht, wie oft das von Bürgern an Wahlkreisständen angesprochen wird. Aber wenn man im Dunkeln über lange S-Bahn-Brücken oder durch Parks läuft, dann fehlt das subjektive Sicherheitsgefühl. Steigende Lebensmittel- und Energiepreise, Mieten und der Zustand des S-Bahnhofs Ahrensfelde – das seien neben der fehlenden Beleuchtung die Themen, die die Bürger an Wahlkampfständen ansprechen würden, sagt Tielebein.

Der 37-jährige große, hagere Mann ist im Marzahner Norden aufgewachsen, seit Jahren Fraktionschef im Bezirksparlament und ein pragmatischer Kommunalpolitiker. Er will die Wahlwiederholung nutzen, um ins Abgeordnetenhaus zu kommen. Das geht nur über das Direktmandat. Mit großer Präsenz im Wahlkreis und Wahlplakaten auch in Russisch und Vietnamesisch soll ihm das gelingen.

„Lindemann hat nichts für diesen Wahlkreis getan. Er hetzt im Abgeordnetenhaus gegen Geflüchtete, wirbt für die Autolobby. Aber Themen wie Schule, Kita und die Infrastruktur hier kommen bei ihm nicht vor,“ sagt er der taz. Da ist er sich mit Lemm einig, der es so formuliert: „Lindemann macht einen Gaga-Wahlkampf mit so bescheuerten Inszenierungen, dass das die Medien aufgreifen. Bei den sozialen Einrichtungen hier ist er nicht präsent und dem Marzahner Norden nützt das überhaupt nichts.“

Lindemann feiert sich als Koch für Fertignahrung

Gaga-Wahlkampf? Lemm spielt auf Internetvideos des AfDlers an, in denen er im Militärlook in „den nasskalten Wäldern und Steppen der Wildnis Marzahn“ eine Büchsensuppe wärmt. Lindemann feiert sich als Koch für Fertignahrung: Er erläutert beispielsweise, wie man Würstchen erwärmt, Kartoffeln zerkleinert oder Sprühsahne auf Eis sprüht. „Lass das mal den Gunnar machen!“ oder „Gunnar kann das!“ steht auf seinen Wahlplakaten. Weniger gaga waren seine Besuche gemeinsam mit anderen AfDlern und weiteren schrägen Vögeln 2018 und 2019 auf der Krim und in der „Volksrepublik Donezk“ sowie 2019 in Südossetien, wo sie wie Staatsgäste empfangen wurden.

Lemm hatte vergangenes Jahr für das Abgeordnetenhaus kandidiert, wurde dann aber überraschend als Bezirksbürgermeister gewählt. Parteiübergreifend wird der 44-Jährige in diesem Job geachtet. Bürgermeister will er auch bleiben, sagt er der taz. Sollte er das Direktmandat dennoch erlangen, will er es nicht antreten. Warum er dennoch kandidiert? „Die SPD darf niemand anderen nominieren. Das sind solche Kuriositäten der Wahlwiederholung.“

Seinen linken Kontrahenten Tielebein macht das wütend: „Wenn Lemm nicht ins Abgeordnetenhaus will, soll die SPD doch ihre Anhänger aufrufen, mich zu wählen, um den AfD-Kandidaten zu verhindern. Dann hätte unser Wahlkreis mit allen seinen Problemen wieder einen demokratischen Vertreter im Landesparlament und nicht den AfD-Rechtsausleger.“ Aber die SPD werbe, so Tielebein, mit „Alle Stimmen SPD“.

So steht es auf ihren Wahlplakaten. Lemm wiederum macht keinen Hehl daraus, dass ihm Tielebein als Wahlkreisabgeordneter lieber wäre als Lindemann. „Aber die SPD hat 2021 viele ehemalige AfD-Wähler gewinnen können. Und ob die dann auch die Linke wählen?“ Im Falle seiner Wahl würde von der SPD-Liste ja jemand anderes nachrücken. „Und der oder die würde sich um den Wahlkreis im Marzahner Norden kümmern,“ sagt er der taz.

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