Die Tendenz einer Jaffa-Orange

WERKSCHAU Das Eiszeit-Kino zeigt Filme des israelischen Regisseurs Eyal Sivan, in denen er sich mit der Politik Israels beschäftigt

Die Geschichte und Gegenwart Israels ist nur über Re-Visionen erzählbar

VON SIMON ROTHÖHLER

Ob er eine Bestimmung innerhalb der israelischen Gesellschaft habe, lautet die erste Frage, die Eyal Sivan in seinem dreistündigen Gesprächsfilm „Itgaber. Sich überwinden“ (1993) an den Neurophysiologen und Philosophen Yeshayahu Leibowitz richtet. Die Antwort des damals bereits 89-jährigen Gelehrten kommt in zwei Teilen: „Ich glaube nicht, dass der Mensch eine Bestimmung hat“; und, ein Zitat des französischen Sozialphilosophen Georges Sorel: „Intellektuelle sind nicht Menschen, die denken, sondern Menschen, die Denken zu ihrem Beruf gemacht haben.“

Die Kombination aus Apodiktik und Skepsis gegenüber der eigenen Erkenntnis- und Sprecherposition kennzeichnete das öffentliche Denken von Yeshayahu Leibowitz, einem der wichtigsten israelischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. 1935 hatte der in Riga geborene Leibowitz das nazistische Berlin, wo er Chemie und Philosophie studiert hatte, verlassen, um sich dem zionistischen Projekt anzuschließen, einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen. Einige Jahrzehnte später sollte er einer der schärfsten Kritiker Israels werden, jemand, dem Jitzhak Rabin 1993 die Verleihung des prestigeträchtigen Israel-Preises verwehren wollte.

Leibowitz kam dem Boykott zuvor und verzichtete ein Jahr vor seinem Tod von sich aus auf die Auszeichnung. Es waren vor allem Äußerungen, die er in Sivans Film mit großer Vehemenz, manchmal aber auch mit resignativem Unterton wiederholt, die ihn aus Sicht der politischen Elite des Landes zu einem ungeeigneten Repräsentanten werden ließen. Israel könne nicht für sich in Anspruch nehmen, eine Demokratie zu sein, wenn es zwei Millionen Menschen essenzielle politische Rechte vorenthalte und in den besetzten Gebieten ein „Apartheids-Regime“ unterhalte. Während der ersten Intifada hätten sich Teile der israelischen Armee wie „Juden-Nazis“ aufgeführt, die Wehrdienstverweigerung sei ein gebotener Akt zivilen Ungehorsams.

Für Leibowitz beginnt das Ende des zionistischen Versprechens als demokratisches Projekt mit dem siegreich geführten Sechstagekrieg von 1967. Darin trifft sich seine Position mit aktuellen Analysen wie Gershom Gorenbergs Buch „The Unmaking of Israel“. Dort wird allerdings die These vertreten, dass es für Israel noch nicht zu spät sei, sich von seinen ethnokratischen Verhärtungen zu befreien, Religion und Staat nachhaltig zu entflechten und die Okkupation mit einer Zwei-Staaten-Lösung zu beenden.

„Itgaber“ ist dieser Tage im Rahmen einer kleinen Sivan-Retrospektive im Eiszeit-Kino zu sehen. Der Regisseur, der auch beim parallel stattfindenden Documentary Forum im Haus der Kulturen der Welt eingeladen ist, wird bei einigen Vorführungen anwesend sein und für Diskussionen zur Verfügung stehen.

Offene Gesellschaft

Bereits vor der Begegnung mit Leibowitz hatte sich Sivan kritisch mit dem israelischen Staat, dessen Bürger er ist, auseinandergesetzt. In „Izkor. Sklaven der Erinnerung“ (1990) geht es um die historischen, memorialkulturellen und religiösen Narrative, die im Bildungswesen des Landes nationale Identität vermitteln sollen. Ähnlich wie Leibowitz erkennt Sivan hier vor allem Strategien einer sich über religiöse wie nationale Gedenktage entfaltenden Indoktrination, trifft aber auch auf beeindruckend differenziert argumentierende Schulkinder. Dass die israelische Gesellschaft immer noch in wesentlichen Zügen eine offene ist, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die heftigste Kritik auch an der Basis aus ihrem institutionellen Innen kommt. Zwölfjährige können mit großer Selbstverständlichkeit gegen ihre Lehrer und für ein Ende der Besatzung argumentieren.

Neben Sivans wohl bekanntestem Film, einer Montagearbeit zum Eichmann-Prozess („Ein Spezialist. Portrait eines modernen Mörders“, 1999), zeigt das Eiszeit-Kino auch „Jaffa. The Orange’s Clockwork“ (2009). Wiederum im Medium des Intellektuellengesprächs, im Dialog mit Historikern, Kunstwissenschaftlern, Journalisten, entfaltet Sivan hier eine Historiografie der israelischen Nationalgeschichte, die den Zionismus im Kern als Projekt des europäischen Kolonialismus perspektiviert. Anhand der berühmten Jaffa-Orange, der Bildproduktionen, die sich um sie herum organisieren, geht es um verschiedene Facetten einer tendenziösen „Ikonökonomie“. Die Exotismen und Orientalismen vieler Werbekampagnen für die Jaffa-Orange geraten ebenso in den Blick wie eine propagandistische Tradition, in der das Bild von Palästina als einer leeren Wüste, die durch den Zionismus fruchtbar gemacht wird, dominiert.

In Sivans Perspektive ist die Geschichte und Gegenwart Israels nur über Re-Visionen dechiffrier- und erzählbar.

■ 24. bis 30. Mai im Eiszeit-Kino, am 30. Mai in Anwesenheit von Eyal Sivan. Infos unter www.eiszeitkino.de