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Krebs in der Krise

Die Coronapandemie hatte gravierende Auswirkungen auf die onkologische Versorgung. Erste Studien belegen den Rückgang bei Vor- und Nachsorge und Therapien

Von Cordula Rode

Mit der ersten Coronawelle, im Frühjahr 2020, kamen alarmierende Meldungen über den Rückgang der Krebsvorsorgeuntersuchungen. „Viele Pa­ti­en­t:in­nen scheuten den Gang in Praxen und Kliniken, um sich dort nicht dem Risiko einer Ansteckung auszusetzen“, so Michael Ghadimi, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG).

Im September 2022 wurde im Fachblatt „Forum“ der DKG eine Studie veröffentlicht, die die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die onkologische Versorgung in Deutschland von März 2020 bis Juni 2022 auf der Basis der Kapazitäten deutscher onkologischer Spitzenzentren (Comprehensive Cancer Centers, CCCs) untersucht hat. Dort zeigte sich im Bereich der Vor- und Nachsorge ein Rückgang von 21 Prozent.

„Diese Angst vor Ansteckung prägte die erste Phase der Pandemie“, so Ghadimi, der auch Direktor der Klinik für Chirurgie der Universitätsmedizin Göttingen ist. „Inwieweit sich die dadurch verzögerte diagnostische Abklärung auf die Zahl der Krebsneuerkrankungen auswirken wird, kann man erst in einigen Jahren sagen.“ Für bereits diagnostizierte Krebs­pa­ti­en­t:in­nen entwickelte sich der Fortgang der Pandemie dann teils dramatisch: „In der zweiten Phase, ab Winter 2020, führte der drohende Engpass auf den Intensivstationen dazu, dass notwendige Tumoroperationen verschoben werden mussten.“

In der dritten Phase traf es diesen Patientenkreis erneut besonders hart – hohe Personalausfälle und lange Quarantänezeiten sorgten für weitere Einschränkungen. Die Studie der DKG belegt, dass die Tumor­operationen im gesamten Zeitraum um mindestens 9 Prozent zurückgingen. Zeitgleich verringerte sich im Verlauf der Pandemie auch das Angebot der wichtigen psychoonkolischen Versorgung um 12 Prozent.

Nicht nur die Engpässe im Versorgungssystem betrafen die an Krebs erkrankten Pa­ti­en­t:in­nen besonders stark. Dramatischer war und ist für sie die Gefahr einer Ansteckung. Die meisten von ihnen sind durch Behandlungen wie Chemotherapien immunsupprimiert und deshalb bei einer Infektion mit Covid-19 hochgefährdet, wie Ghadimi erläutert: „Es besteht die große Gefahr schwerer und auch tödlicher Verläufe durch Komplikationen wie Lungenentzündungen.“ Gleichzeitig verhindere die bei Krebs­pa­ti­en­t:in­nen meist lange Dauer der Corona-Infektion häufig die Fortsetzung lebensnotwendiger Operationen und Therapien: „Da kann es vorkommen, dass ein Patient mit wochenlanger Chemo auf eine Tumoroperation vorbereitet wurde – und dann kann diese wegen der Infektion nicht stattfinden.“

Genau diese bedrohliche Kombination hat Sonja R. erleben müssen. 2018 wurde bei der 62-jährigen Knochenkrebs diagnostiziert. Geplant waren Bestrahlungen und im Anschluss daran eine CAR-T-Zelltherapie, eine neue und sehr innovative Art der Immuntherapie. Bevor die durch anderweitige gesundheitliche Komplikationen ohnehin erst verzögert mögliche Behandlung beginnen konnte, infizierte Sonja R. sich, trotz dreifacher Impfung, mit Covid-19. „Sechs Wochen lang war ich positiv“, erzählt sie. „Alles musste verschoben werden.“

Als dann endlich die Tests wieder negativ waren, bekam sie einen sehr anstrengenden Zyklus von 22 Bestrahlungen. Bevor die Immuntherapie im Anschluss starten konnte, kam dann die böse Überraschung – die Patientin hatte sich erneut mit Covid-19 infiziert, trotz extremer Vorsichtsmaßnahmen ihres gesamten Umfelds. Wieder musste sie wochenlang auf die dringend notwendige Therapie warten. „Die CAR-T-Zelltherapie musste ganze sechsmal verschoben werden“, so Sonja R. Die extreme psychische Belastung konnte sie durch den Rückhalt der Familie und die verständnisvolle Unterstützung der Mitarbeitenden der Klinik in Göttingen auffangen.

Verlässliche Zahlen gibt es noch nicht, aber erste Studien zeigten bereits, dass die Wirksamkeit der Impfung bei Pa­ti­en­t:in­nen mit Krebs deutlich geringer ist als bei Menschen ohne diese Vorerkrankung. Eine Untersuchung der Medizinischen Universität Wien kam Anfang 2022 zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Durchbruchsinfektionen (Infektion trotz Impfung) besonders bei der Omikron-Variante sehr hoch ist. 950 der 3.959 Teil­neh­me­r:in­nen der Studie infizierten sich – und 70 Prozent der Infizierten waren einmal oder mehrmals geimpft. Die meisten Verläufe waren leichter als bei ungeimpften Pa­ti­en­t:in­nen – zuverlässigen Schutz aber kann die Impfung noch nicht bieten. Das bei Krebserkrankungen geschwächte Immunsystem kann nicht so viele Antikörper entwickeln wie das eines gesunden Menschen.

Die bisher vorliegenden Erkenntnisse über die alarmierenden Einschränkungen des onkologischen Versorgungssystems unter Corona, so hoffen Mediziner, werden zur Entwicklung sinnvoller Strategien für den Fall einer erneuten Pandemie beitragen.