die taz vor zehn Jahren: michael jackson präsentiert „HIStory“ – und wirbt um die teenager
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Die multimediale Inszenierung reagiert auf das, was Jackson selbst eine Inszenierung, ein Komplott nennt: die Vorwürfe, er habe Sex mit dem minderjährigen Jordan Chandler gehabt. Ein Skandal, der die amerikanische Psyche beschäftigte wie sonst nur Nancy Kerrigans Knie, John Bobbitts Penis oder O. J. Simpsons Minenspiel vor Gericht.

Mit Simpson verbindet Jackson nicht nur die Tatsache, daß beide als „Schwarze“ zum rassenübergreifenden Massenidol werden konnten – in den USA immer noch die absolute Seltenheit. „I Want To Tell You“ hieß O. J.s als Buch erschienene Verteidigungsschrift, M. J. zieht den Joker „HIStory. Past, Present And Future, Book I“, semantisch gesehen ein recht durchsichtiges Manöver von Albumtitel, biblisch in seinem Verkündigergestus, kindlich in seinem geballten Anspruch. Doch „HIStory“, auch das hat Jackson mit Simpson gemeinsam, will auf das Pathos der Zeugenschaft in eigener Sache hinaus, wie es die großen Gerichtsspiele in den USA entfalten. Der selbstentfachte Rummel um das Album ist ein Nachspiel in eigener Sache, eine symbolische Umkehr des Prozesses gegen Jackson, der nicht stattfand, weil er 1994 mit einem außergerichtlichen Vergleich endete.

Im Falle Jacksons sind die Fakten längst unter einer Schicht von Gerüchten, inflationären Gutachten, Enthüllungen und Gegenenthüllungen verschwunden. Es wimmelt von ehemaligen Leibwächtern und Hausangestellten, die Jacksons Hand umso weiter in Chandlers Hose sahen, je mehr Geld ihnen für ihre Aussage geboten wurde.

Produktion der Fiktionen aber auch auf Jacksonscher Seite: Seit dem karrieregefährdenden Backlash hat er nicht nur Schweigegelder gezahlt, er ist auch eine Heirat eingegangen, an die kein Mensch glaubt. Und jetzt hat er eine ursprünglich als Greatest-Hits-Rückblick geplante Platte zum Megaphon einer Art Pop-Verteidigung ausgebaut, die kurzerhand die Teenager der Welt zu Geschworenen nimmt.

Thomas Groß, 19. 6. 1995