Türkische Bauunternehmer in der Kritik

Suche nach Verantwortlichen beginnt. Opposition verschiebt Kür ihres Spitzenkandidaten

Von Jürgen Gottschlich

Nachdem die erste Phase der unmittelbaren Bergung von Verschütteten weitgehend abgeschlossen ist, richtet sich das Interesse in der Türkei mehr und mehr darauf, mögliche Verantwortliche für die Erdbebenkatastrophe ausfindig zu machen. Erste Adresse dafür sind die Bauunternehmen. Vor allem ein Mann ist im Moment das Gesicht für den tödlichen Pfusch am Bau: Bauunternehmer Mehmet Yaşar Coşkun. Der Unternehmer ist Bauherr einer erst kürzlich eröffneten angeblich völlig erdbebensicheren Luxusanlage in Antakya in der Provinz Hatay, die durch das Erdbeben komplett zerstört wurde. Er wurde am Wochenende am Flughafen von Istanbul festgenommen – als er sich ins Ausland absetzen wollte.

Zwei weitere Bauunternehmer, die nach Georgien flüchten wollten, wurden ebenfalls festgenommen. Darüber hinaus ermitteln mittlerweile diverse Staatsanwaltschaften im ganzen Land gegen mehr als 100 weitere Unternehmer.

Tatsächlich zeigt sich im Katastrophengebiet eine Woche nach dem Erdbeben vom Montag vergangener Woche immer deutlicher, dass Pfusch am Bau einer der Hauptgründe war, warum aus der Naturkatastrophe eine solche Tragödie wurde. In vielen der betroffenen Städte zeigt sich, dass neben völlig zerstörten Häusern andere das Beben ohne große Schäden überstanden haben. „Ein Haus liegt völlig in Trümmern, im Haus daneben sind noch nicht einmal die Fensterscheiben kaputtgegangen“, berichtete ein Beobachter aus dem Katastrophengebiet der taz.

Das dürfte aber nicht nur an den Bauunternehmern gelegen haben, sondern auch an den zuständigen Bürokraten, die Projekte genehmigten und am Ende auch abnahmen. Viele Betroffene berichten, dass in Gegenden, wo nur vierstöckig gebaut werden darf, Bauunternehmer mit Kontakten zur Regierung regelmäßig sechs Stockwerke bauen konnten. Diese Häuser sind nun als erste zusammengebrochen.

„Der Staat ist unter Schutt begraben, wir müssen ihn wieder aufbauen“

Parole der Oppositionspartei CHP

Die Opposition hat sich diese Kritik zu eigen gemacht. CHP-Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu, möglicher Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei der für Mai geplanten Präsidentschaftswahl, hat die Parole ausgegeben: „Der Staat ist unter Schutt begraben, wir müssen ihn wieder aufbauen.“ Allerdings ist zurzeit unklar, ob der Wahltermin am 14. Mai tatsächlich bestehen bleibt. Erdoğan hat sich noch nicht dazu geäußert. Er wartet offenbar erst einmal ab, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt.

Die Opposition, die zu Recht vermutet, dass viele Menschen im Moment von der Regierung enttäuscht sind, wollen, dass der Wahltermin beibehalten wird. Sie hat vorsorglich bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Wahl laut Verfassung nur im Kriegsfall verschoben werden darf. Sollte Erdoğan dennoch versuchen, die Wahl auszusetzen, will man vors Verfassungsgericht ziehen.

Im Moment ist aber auch die türkische Opposition noch nicht auf die Wahlen vorbereitet. Die Kür ihres Spitzenkandidaten, die eigentlich für Montag vorgesehen war, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Noch immer steht neben Kılıçdaroğlu auch der beliebte Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu in den Startlöchern. Wie Kılıçdaroğlu ist auch İmamoğlu seit Tagen im Erdbebengebiet unterwegs, um Hilfe aus Istanbul zu bringen, aber auch um schonungslos auf die Versäumnisse der Regierung hinzuweisen.