Teheran in Partystimmung

Wenn auch spät, das Wahlkampffieber hat die Iraner gepackt, leidenschaftlich wird über den künftigen Präsidenten debattiert

„Keiner kann es sich heute leisten, nicht von Freiheiten im Privatleben zu sprechen“

AUS TEHERAN KARIM EL-GAWHARY

Am Ende hat es die Iraner doch noch erwischt – das Wahlkampffieber. Nicht in den Wahlkampfbüros, sondern in den abendlichen Verkehrsstaus in Teheran tobt eine riesige Wahlkampfparty. „Haschemi Rafsandschani hat die größte Erfahrung, und seine Taschen sind bereits voll“, ruft der junge Mann im Nebenauto. Wie er unterstützen die meisten Stau-Teilnehmer Rafsandschani. Er gilt als absoluter Favorit bei der heutigen Präsidentenwahl.

Viele junge Leute unterstützen den Reformkandidaten Mustafa Moin. Wie der Motorradfahrer, der statt eines Helms ein Moin-Poster als Kopfschutz trägt. Und dann gibt es noch jene verdutzte Frau in der Nebenspur, die kopfschüttelnd allen erzählt, dass sie auf gar keinen Fall wählen gehen wird. Erst am Mittwochabend, zwei Tage vor der Abstimmung, wachen die Teheraner aus ihrer Wahl-Apathie auf.

Mit mehr als tausend Wahlbewerbern, die bereits im Vorfeld vom konservativen Wächterrat als unislamisch disqualifiziert wurden, können die Iraner zwischen dem alten Politfuchs und geschäftstüchtigen Mullah Rafsandschani, vier Hardliner-Kandidaten mit militärischem Hintergrund und dem wenig charismatischen Reformkandidaten Mustafa Moin auswählen. Wie viele der 48 Millionen Wahlberechtigten am Freitag zu Hause bleiben werden, ist wohl die spannendste Frage des Volksvotums, die die Legitimität des zukünftigen Staatschefs entscheidend prägen wird.

Irans Reformer sind in der Frage der Wahlteilnahme gespalten. Für einen Teil von ihnen gilt weiterhin das „Prinzip Hoffnung“. „Es sind die ersten Wahlen, bei denen der Ausgang nicht ganz vorhersehbar ist“, meint Reformaktivist Said Lilaz, der für den Bau und Verkauf eines iranischen Busmodells zuständig ist. Da er aber das Geschäftsleben ohne Politik langweilig findet, verfasst er auch zahlreiche Artikel, in denen er die iranische Reformbewegung analysiert. Die Konservativen konnten sich nicht auf einen Kandidaten einigen, und in den letzten Tagen habe der Reformkandidat Moin doch noch Aufwind erhalten, erklärt er und hofft auf einen Umschwung in allerletzter Minute, durch den die Konservativen, „wie bei der Verlängerung im Fußballspiel, überraschend geschlagen werden“. Wenn Rafsandschani am Freitag nicht fünfzig Prozent der Stimmen erhalte, dann gebe es in zwei Wochen eine Stichwahl, wahrscheinlich mit Moin. Das würde alle auch heute von der Reformbewegung enttäuschten Iraner erneut aktivieren.

Auch der vom Wächterrat als Reformkandidat abgelehnte erste Außenminister nach der islamischen Revolution, Ibrahim Yazdi, glaubt, dass Moin es geschafft hat, in den letzten Wochen doch noch „die stille Mehrheit“ zu mobilisieren. Er macht ebenfalls für Moin Wahlkampf und wurde vor wenigen Tagen von einem Mob radikaler konservativer Jugendlicher angegriffen und am Kopf verletzt. „Das war völlig irrational und nutzt nur den Reformern“, sagt der freundliche alte Mann, während er auf die verkrustete Narbe unter den grauen Haaren auf seinem Hinterkopf deutet.

Auf einer Wahlveranstaltung im Universitätsstadium versucht Moin noch einmal vor allem junge Wähler zu mobilisieren. Eine Band spielt melancholische Lieder über die „dunklen Zeiten“, während über dem Gelände ein motorisierter Drachenflieger mit der Aufschrift „Wählt Moin“ kreist.

„Geht wählen, wir müssen unsere Grenzen austesten“, ruft Fatima Hakikat Jo ins Mikrofon. Ihr Aufruf hat Symbolkraft. Sie war die erste iranische Parlamentarierin, bevor sie aus Protest gegen die ständige Einflussnahme des Wächterrats zurückgetreten ist. Das jugendliche Publikum, das aber etwa nur die Hälfte der Ränge füllt, klatscht begeistert, einige drehen mit wehenden iranischen Nationalfahnen ein paar Ehrenrunden auf der Aschenbahn.

Andere Reformer geben sich keinerlei Illusion über die Wahlen hin, nutzen aber den politischen Spielraum, der sich im Vorfeld der Wahlen eröffnet hat. Unbehelligt von der Polizei, die lediglich die Straße gesperrt hat, protestiert ein Häuflein Intellektueller lautstark vor dem Teheraner Evin-Gefängnis für die Freilassung politischer Gefangener. „Freiheit“ heißt es schlicht auf ihren Plakaten. Faribors Raisdana, der Chef des iranischen Schriftstellerverbandes, hält eine feurige Rede per Megafon. Auf die Frage, ob er wählen geht, winkt er anschließend ab. „Unter diesen Umständen interessieren mich weder Kandidaten noch das Ergebnis. Niemand hat ein echtes Reformprogramm vorgelegt“, sagt er aufgebracht, steigt ins Auto und fährt davon.

Auch vor der Teheraner Universität herrscht bei vielen der jungen Studenten kein Wahlenthusiasmus. „Warum sollte ich wählen gehen? Das ganze System der Herrschaft der Mullahs ist falsch, und der Versuch, innerhalb dieser Struktur zu reformieren, ist doch von vornherein zum Scheitern verurteilt“, erklärt die 24-jährige Wirtschaftswissenschaftsstudentin Nassrin, ihr Kopftuch keck an den hinteren Rand ihre Haares drapiert.

Doch jenseits der Tagespolitik in der Islamischen Republik Iran, ist das Land 25 Jahre nach der Revolution alles andere als ein statisches Gebilde. Man dürfe nicht nur auf den Streit zwischen Reformern und Konservativen schauen und auf die Frage, wer die Wahlen gewinnt, sondern müsse sich darauf konzentrieren, was die Kandidaten sagen, rät Reformaktivist Lilaz. „Die Konservativen geben sich heute anlässlich einer jugendlichen Bevölkerung, in der 60 Prozent unter 30 Jahre alt ist, so liberal wie einst zu Beginn, und die Reformer sind radikaler geworden. Keiner kann es sich heute leisten, nicht von Freiheiten im Privatleben zu sprechen“, hat er beobachtet. „Wenn du vor zehn Jahren das islamische Regime kritisiert hättest, hätte man dich am nächsten Tag tot unter einer Brücke gefunden. Heute kann ich kritisieren, und sie suchen schlimmstenfalls in den Gesetzbücher verzweifelt nach einem Paragrafen, um mich einzusperren“, sagt er.

So hat sich die iranische Gesellschaft unter den Mullahs längst verselbstständigt. Viele junge Frauen in Teheran haben das Kopftuch ganz nach hinten gezogen. Die privaten, oft alkoholisierten Donnerstagabendpartys sind inzwischen sprichwörtlich. Beim letzten Fußballspiel der Nationalmannschaft kam erstmals eine Gruppe von 100 Frauen illegal ins Stadium, um anschließend nach der WM-Qualifikation ihrer Mannschaft zu feiern und ihre Kopftücher wie Fahnen zu schwenken. Und selbst das Pärchen, das sich auf einem Motorradsitz gemeinsam eng angelehnt durch den Teheraner Berufsverkehr schlängelt, zeugt vom Aufbruch neuer Zeiten, egal wie der nächste Präsident heißen wird. „Kulturell und gesellschaftlich sind die Zeiten des islamistischen Totalitarismus vorüber“, glaubt Lilaz. Die Mullahs müssen sich einfach den neuen Realitäten anpassen. „Ansonsten gleicht ihre Politik in der Islamischen Republik einem Kleidungsstück, dessen Träger zu dick geworden ist“, greift er zur Metapher, „erst springen die Knöpfe ab, und dann stehen sie ganz nackt da.“