Uli Hannemann
Liebling der Massen
: Mein Blockwart-Spleen: Gasmuttering

Im Laden entdecke ich vor der Reihe mit den Kühlregalen, da, wo sich die Fischprodukte befinden, eine Person, die in Kürze einen schlimmen Fehler begehen wird. Dessen bin ich mir sicher. Sofort werde ich ziemlich fuchsig.

Ich postiere mich hinter ihr, leicht genervte Ungeduld ausstrahlend. Sie muss denken, dass ich genau an dieser Stelle auch ans Sortiment will, sie im Weg ist und sich besser beeilen sollte. Wahrscheinlich deshalb lässt sie nach einem hastigen Griff ins Kühlregal die Schiebetür sperrangelweit offen.

Jetzt habe ich sie! Ich blicke sie, die sich im Weggehen etwas verunsichert nach mir umdreht, böse und traurig an. Atme dabei verächtlich aus. Geh nur, sage ich damit, gesellschaftskonformes Benehmen ist leider nicht Allen gegeben. Ich bin der personifizierte Vorwurf.

Sie nicht aus den Augen lassend, schiebe ich – peng! – mit ostentativem Schwung die Tür zum Kühlregal zu. Seufze dabei noch einmal, menschlich zutiefst enttäuscht. Irgendwer muss das ja machen, soll das heißen. Irgend jemand muss schließlich die Fehler der Asis ausbügeln und die von den Rücksichtslosen hinterlassene, verbrannte Erde mühsam mit den Pflänzchen zivilisierten Verhaltens wieder aufforsten.

Denn wenn die Waren – und ganz besonders der Fisch! – zu warm werden, entstehen darin Gifte. Daran können Menschen sterben, Kinder, wehrlose unschuldige kleine Kinder. Aber das ist Leuten wie ihr ganz offensichtlich scheißegal.

Ich spüre, wie ich immer wütender werde, je länger ich darüber nachdenke: Die Alte hat doch einen Knall! Ist die im Iglu aufgewachsen? Die kann froh sein, wenn ich ihr nicht hinterherrenne, sie am Kragen packe, schüttle und anschreie. Hau bloß ab. Ja, du, genau du.

Tatsächlich wollte ich selber Fisch kaufen. So ein Zufall. Aber das kann sie ja gar nicht wissen. Sie hat einfach nur die Kühlung offen gelassen – meine Meinung. Andernfalls hätte sie sich zumindest vergewissern müssen, mich fragen oder so, ob ich da wirklich dran wollte. Das wäre nun mal ihre Bürgerpflicht gewesen. So zählt das nicht.

Ich kann jetzt natürlich nicht direkt vor ihren Augen die Tür wieder aufschieben und mir die gewünschte Ware nehmen. Nicht, solange sie noch in der Nähe ist und die Gefahr besteht, dass sie mich dabei sieht. Ich darf nicht unvorsichtig werden. Das nähme mir komplett den Triumph. Meine ganze Belehrungsarbeit wäre mit einem Schlag zunichte gemacht, und mein Ruf als altruistischer und verantwortungsvoller Ordnungsmensch ruiniert. Meine Einkaufsliste ist ohnehin noch länger. Dann komme ich eben nach ein paar Runden durch die anderen Regalreihen wieder.

Während ich im Nudelgang Zeit schinde, beruhige ich mich ein wenig. Man könnte sogar sagen, ich reflektiere meine Niedertracht: Ständig muss ich geradezu zwanghaft fremde Menschen für ihre angeblichen Fehler im Nörgelton zurechtweisen – eine Vorliebe, die ich als „Gasmuttering“ bezeichne, ein Mix aus Gaslighting und Muttering. Stets sollen andere Leute denken, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben. Das macht mich dann immerhin ein kleines bisschen glücklich.

Woher kommt das bloß, warum bin ich eigentlich so ein Arschloch? Ich habe keine Ahnung. Es ist wie ein unaufhaltsamer Sog in ein schwarzes Loch hinein, das meine Seele ist. Derselbe dunkle Trieb, der einen nachts besoffen zu McDonald’s zieht oder in anderweitige Eskapaden der bescheuerten Art hinein, wie sie in meiner Jugend, also bis etwa Mitte 40, fast die Regel waren. Da hat Mister Hyde den Dr. Jekyll aber manchmal so richtig gefickt. Im Vergleich dazu empfinde ich den Blockwart-Spleen noch als harmlos.