Forderungen der Gewerkschaften: Mittelstandspflege der IG Metall

Viertagewoche? Mehr Work-Life-Balance? Eigentlich gute Ideen. Aber sie gehen an der Realität der Ge­ring­ver­die­ne­r:in­nen vorbei.

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann

Will die Viertagewoche: IG-Metall-Chef Jörg Hofmann Foto: Hannes P Albert/dpa

Der 1. Mai ist der Tag der Gewerkschaften. Zumindest sollte man das annehmen, gerade im Jahr 2023. Zwar regiert in Berlin eine, na vielleicht nicht explizit linke, aber zu zwei Dritteln doch linkere Regierung als in den Merkel-Jahrzehnten davor. Allerdings schafft es das dritte Drittel der Koalition, jeden sozialen Ansatz von SPD und Grünen so sehr zu torpedieren, dass man von der Ampel nicht wirklich das Glück der Arbeiterklasse erwarten mag.

Und die allenfalls in Spuren noch vorhandene linke Opposition wagenknechtet sich dermaßen selbst, dass auch von dort keine kraftvolle Vertretung des Proletariats in Sicht ist. Hinzu kommt eine anhaltend extreme Inflation, die nichts anderes als eine permanente Umverteilung von unten nach oben zur Folge hat.

Dennoch war am Montag von einem anständigen Aufstand keine Spur. Die Demos von DGB & Co wirken ritualisiert. Nichts gegen Rituale. Weihnachten kann ja auch ganz nett sein, genau wie ein demonstrativer Spaziergang am 1. Mai. Frühling lässt sein rotes Band wieder flattern durch die Lüfte. Man bekommt eine Ahnung von dem, was möglich wäre im Land. Mehr nicht. Geht es uns vielleicht noch zu gut?

Zu gut sicher nicht. Aber eben auch nicht dramatisch schlecht. Das liegt – auch – an der viel gescholtenen Ampelkoalition, die es trotz FDP geschafft hat, die dramatischsten Folgen der Energiekrise so abzufedern, dass der befürchtete heiße Herbst ausblieb, ja schon vergessen ist. Einmal hat es die Ampel also doch geschafft, sozialpolitisch einzugreifen. Doch das Land echauffiert sich über die Heizkesselreform. Nun ja, Kommunikation ist eine politische Kunst, die gelernt sein will.

Knappes Gut Arbeitskräfte

Zurück zum Thema: Wie gut es dem Land geht, zeigt die aktuelle Debatte, die von der IG Metall angestoßen wurde: Sie will die Viertagewoche. Die ist beileibe keine realitätsfremde Utopie. Das Thema ist sogar gut platziert. Denn wenn die Arbeitgeber aller Klassen lauthals über den Fachkräftemangel stöhnen, der tatsächlich eher ein Arbeitskräftemangel ist, weiß die arbeitende Bevölkerung, dass sie zum knappen Gut geworden ist. Dass sie am stärkeren Hebel sitzt. Dass sie mithin Forderungen stellen kann, an deren Durchsetzung sonst nie zu denken wäre.

Work-Life-Balance? Ein wichtiges Thema! Und schön, dass viele es sich leisten können, darüber nachzudenken. Als Angebot, als Option, als Möglichkeit hat das durchaus seinen Reiz. Aber es ist bei Weitem eben nicht die glückselig machende Revolution für alle. Vor allem das Heer der Ge­ring­ver­die­ne­r:in­nen wird sich ratlos an den Kopf fassen, wenn die Gewerkschaften in erster Linie Mittelstandspflege betreiben. Denn die Nied­rig­löh­ne­r:in­nen dürften dann freiwillig mehr arbeiten, um über den Lohnausgleich hinaus zusätzlich Geld zu verdienen. Kein Wunder, dass vom Aufstand der Arbeitenden bei den Gewerkschaftsdemos so wenig zu sehen ist.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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