Am Rande eines Abgrunds

Den KomponistInnen, die im KZ Theresienstadt inhaftiert waren, galt ein Gedenkkonzert im Pierre Boulez Saal

Von Katharina Granzin

Die Staatsministerin Claudia Roth hat eine schöne Rede im Gepäck. Da sie als Schirmfrau des Events fungiert, gehört Roth zu den HonoratiorInnen, die vor dem Konzert zum Publikum sprechen. Sinngemäß heißt es in ihrem Manuskript, dass wir mit der Musik der Theresienstädter Komponisten, die wir heute hören könnten, ebenfalls jene künstlerischen Werke würdigten, die es eben nicht gibt und die nicht geschaffen werden konnten, weil ihre potenziellen SchöpferInnen ermordet wurden. Für einen Moment wird da ein großer kultureller Abgrund und ein unersetzlicher Verlust spürbar.

Der US-amerikanische Dirigent Murry Sidlin hat mit „Hours of Freedom. The Story of the Terezín Composer“ ein moderiertes Konzertformat erarbeitet, das mit Foto- und Videoeinspielungen sowie von ihm selbst verlesenen Zwischentexten die Musikstücke kontextualisiert. Die Musikauswahl ist vielfältig und gibt einen sehr interessanten Einblick ins kulturelle Leben des KZ Theresienstadt, das als Vorzeigelager für Propagandazwecke eine Ausnahme unter den KZs bildete – auch wenn es nur kurze Momentaufnahmen sind, bevor sich das jeweilige Guckloch wieder schließt. Neben mittlerweile gut eingeführten Komponisten wie Pavel Haas, Viktor Ullmann, Gideon Klein oder Hans Krása stehen auch wenig bekannte Namen im Programm und es sind Formate dabei, die im klassischen Konzertbetrieb sonst keinen Raum haben. Nicht nur die „höheren“ Kunstformen wurden in Theresienstadt gepflegt; es gab auch großen Bedarf an Unterhaltungsmusik und an Liedern, die Trost und Zuversicht spendeten.

„Všechno jde“/„Alles geht“ etwa lautet ein Text, den der 25-jährige Karel Švenk (der da nur noch drei Jahre zu leben hatte) 1942 schrieb und als munteres Couplet vertonte, das die menschliche Fähigkeit zum Humor und zum Zusammenhalt feiert und nebenbei Kritik an der Zensur übt. Ein anderes Beispiel der Unterhaltung ist eine vom Konzertmeister des Theresienstädter Orchesters Egon Ledeč komponierte Gavotte. Ledeč, erzählt Murry Sidlin, sei oft mit seinem Streichquartett durch die Hintergassen von Theresienstadt gezogen, um für jene zu spielen, die zu krank oder schwach waren, um zu den Konzerten zu gehen.

Es ist ein großer Kontrast zwischen dieser leichten Muse und anderen Beiträgen, etwa dem fünften Satz aus Viktor Ullmanns Klaviersonate Nr. 7, in dem sich, wie die Pianistin Bethany Danel Brooks virtuos demonstriert, eine hebräische Elegie, ein tschechisches Kampflied und ein lutherischer Choral verbissen ineinander verhaken. Oder jenem Ausschnitt aus Pavel Haas’ „Studie für Streicher“, der auch im Nazi-Propagandafilm über Theresienstadt zu sehen war.

Sidlins Konzept ist einerseits verdienstvoll, andererseits ist der Gehalt an Information insgesamt eher spärlich

Haas kommt als Komponist an diesem Abend zu kurz, weil wirklich nur dieser kurze Schnipsel Musik zu hören ist, zu dem die Streicher des Ensemble Prague Modern live ihre Stimmen intonieren, während auf der Leinwand das Theresienstädter Orchester unter Karel Ančerl spielt. Es ist ein seltsamer Moment – einerseits berührend, andererseits ein unangenehmes Gefühl hinterlassend, weil damit im Falle von Pavel Haas auch für diesen Abend die Wahl des Musikausschnitts den Nazis überlassen und einem vordergründigen Effekt der Vorzug vor einer ernsthaften Präsentation des Komponisten gegeben wurde. Haas hat wundervolle Kammermusik geschrieben; wie gern hätte man die famosen Musiker von Prague Modern eines seiner Streichquartette spielen hören.

Diese Zweischneidigkeit des Gefühls regt sich auch in anderen Momenten. Sidlins Konzept ist einerseits verdienstvoll, andererseits ist der Informationsgehalt der vielen Zwischenmoderationen insgesamt eher spärlich. Im Programmheft wiederum sind zwar alle Liedtexte abgedruckt, was schön ist; es findet sich aber keine einzige Zeile Text über einen der gespielten Komponisten. Für ausführliche Biografien des Dirigenten und der vier SängerInnen des Abends dagegen ist Platz da, sogar mit Bild. Das mag nun angemessen finden, wer will.