„Armut wird verniedlicht“

Diskussion Tafelforscher Stefan Selke spricht über die Problematik organisierter Nächstenliebe

■ 44, Professor für Soziologie, Hochschule Furtwangen, Buchautor und Publizist.

taz: Herr Selke, die Tafeln sind doch eine sinnvolle Einrichtung oder?

Stefan Selke: Ja, grundsätzlich ist das so. Aber wir beobachten in der Tafelforschung langfristig auch negative Effekte.

Die da wären?

Die Tafeln haben ein starkes, institutionelles Eigeninteresse entwickelt. Ihre Erreichbarkeit und Wirksamkeit ist erwiesenermaßen nicht so stark wie ihre Präsenz. Die Probleme der Betroffenen werden zu sehr durch die Brille der Ehrenamtlichen gesehen, dies kann dann zu einer Verniedlichung von Armut führen.

Was meinen Sie mit Verniedlichung?

Die Stigmatisierung zum Almosenempfänger wird von Helfern nicht als solche wahrgenommen. Ein Beispiel: Aus Sicht der Ehrenamtlichen sind Bedürftige vor allem dankbar, die andere Seite spricht aber vor allem von Resignation. Hier ergeben sich zwei Perspektiven, die nicht zusammenpassen. Hinzu kommt, dass die Politik sich immer weiter zurückziehen kann.

Die Politik profitiert also, wodurch denn?

Es muss dringend nach langfristigen, politischen Lösungen zur Armutsbekämpfung gesucht werden. Aber dadurch, dass es diese sozialen Einrichtungen gibt, kann die Politik weiter in ihrer Passivität verharren.

Gibt es andere „Nutznießer“?

Ein bekanntes Problem sind Unternehmen, die teilweise „Nichtverkäufliches“ billig entsorgen können und sich als Wohltäter ausgeben.

Sind Sie grundsätzlich ein Gegner der Tafeln?

Nein! Die Tafeln leisten wertvolle Arbeit. In vielen Städten wird mit uns zusammengearbeitet, um sich gegen eine Instrumentalisierung durch Politik und Unternehmen zu wehren.

Worum geht es in der heutigen Gesprächsrunde?

Wir haben vor kurzem das Projekt „Tafel-Dialog“ ins Leben gerufen. Die Idee ist, alle Akteure wie gemeinnützige und kirchliche Einrichtungen, Gewerkschaften, Betroffene und Wissenschaftler zueinanderzubringen, um eine gemeinsame Botschaft zu formulieren. Wir möchten Armutsbekämpfung statt Abspeisung. Das heutige Treffen ist ein kleiner Baustein auf diesem Weg. Interview: HMM

Gemeindehaus St. Stephani, Stephanikirchhof 8