Naturerleben jenseits der Erwerbslogik: Flamingos mit neuen Augen sehen

Tierspotting verlangt Leistung und macht die Natur zum Objekt. Schmetterlinge oder Vögel lassen die Reisende aber auch spontanes Glück erfahren.

Eine Gruppe Flamingos im Wasser

Rosaflamingos in Italien Foto: D. Occhiato/AGAMI/imago

Die Flamingos sind nur mit dem Fernglas richtig zu erkennen. Sie stehen am hinteren Ende der Lagune und gehen ihrer Morgenroutine nach, die, so weit ich es beurteilen kann, im Wesentlichen aus Fressen besteht. Mit inniger Freude sehe ich ihnen an diesem warmen Morgen zu. Ich feiere es, wenn einer mit den Flügeln schlägt, oder dass da ein Junges ist, oder dass diese Tiere wirklich rosa sind. Dass es sie überhaupt gibt in Europa.

Alina Schwermer schreibt alle vier Wochen übers Gehen, Bleiben und Reisebegegnungen.

Die Gegenwart hat dafür gesorgt, dass wir beim Reisen kaum ein Tier je zum ersten Mal sehen. Seit der Kindheit gehen wir in Zoos, sehen Tiere auf ein paar Quadratmeter gepfercht als Unterhaltungsgut, wenden uns nach zwei Sekunden ab. Und doch gibt es einen zweiten Moment, ein Tier erstmals zu sehen: diesen.

Es ist Spätfrühling in Süditalien, und es heißt hier, das sei die schönste Zeit. Warm, aber noch nicht heiß, mit berauschenden Wiesen voller Wildblumen in allen Farben. In den Städten sind alle aufgebrezelt zum abendlichen Spaziergang oder Ausgehen, Straßenmusiker spielen, irgendwer tanzt spontan dazu.

Wer kann den beginnenden Sommer so zelebrieren wie Italien? In der lokal ein bisschen berühmten Salina dei Monaci, wo die Flamingos leben, sagen sie, jetzt sei es schwer, die Vögel zu sehen. Sie flüchteten vor den Menschenmassen. Also pirschen wir noch mal zwischen Salzgräsern und Strand, kurz nach Sonnenaufgang.

Eine Erinnerung an das, was wir verloren haben

Und da stehen sie wirklich, glorreich und rosa. Was macht das Bekannte jetzt zu etwas Besonderem? Vielleicht, dass es ein Moment ist, für den man sich anstrengen musste. Er lässt sich nicht zuverlässig erwerben, ein freies Lebewesen entzieht sich als eine der wenigen Sachen auf dieser Welt der Erwerbslogik.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Es ist das Prinzip Mount Everest, da steigt man ja auch nicht für den Schnee rauf. Tierspotting macht Natur erneut zur Trophäe, zum Objekt, zur Leistung. Aber auch zu spontanem Glück – eine Erinnerung an das, was wir verloren haben.

Beim Wandern durch Süditalien begegnet uns eine umwerfende Biodiversität: Auf den Wildblumenwiesen flattern Schmetterlinge aller Größen und Farben, dazwischen schwirren winzige Vögel. Es sind Dinge, von denen ich als Kind nie geglaubt hätte, dass ich darüber mal staunen würde. Schmetterlinge oder Singvögel.

Wie radikal viele in Deutschland verschwunden sind, bemerkt man im Alltag kaum. Man merkt es erst auf Reisen. Über Apulien heißt es, es sei eine wirtschaftsschwache Region. Man sagt das mit Bedauern, wie etwas, was es zu ändern gelte. Dabei sind die wilden Naturräume genau diesem Umstand zu verdanken: weil die Grundstücke verlassen sind. Oder noch gar nicht verkauft. Ist es zu glauben, dass sie kaum etwas kosten?

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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