Tränengas und Möwenschreie

Zehn Jahre nach den Gezi-Protesten in der Türkei widmet sich das Gorki-Theater den Folgen. Feldaufnahmen von Erdem Helvacıoğlu lassen die Demonstrationen noch mal aufleben

Von Cem-Odos Güler

Auf der Aufnahme singt ein Mann darüber, dass die Welt den Ignoranten gehöre. Nach und nach ist zu hören, wie Menschen aus dem Publikum in den Refrain einsteigen: „Sie wissen nichts, sie wollen nichts wissen / Sieh dir diese unwissenden Menschen an, ihnen gehört die Welt.“ Ein lauter Knall unterbricht den Gesang, Husten, panische Schritte: Eine Tränengasgranate treibt die Menschen auseinander und in die Seitenstraßen von Istanbul.

Es sind Aufnahmen, die der Komponist Erdem Helvacıoğlu während der Gezipark-Proteste vor zehn Jahren aufgezeichnet hat. Zehn Jahre sind nun die Demonstrationen her, die als Protest gegen die Zerstörung des zentralen Istanbuler Parks begonnen hatten und sich bald darauf über das ganze Land ausdehnten und zu einer breiten Allianzbildung gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan führten. Eine Veranstaltungsreihe im Berliner Maxim Gorki Theater hat sich dieser Tage den Ereignissen von damals verschrieben.

Denn die Proteste haben eine politische Generation in der Türkei geprägt, und die gewaltsame Niederschlagung der Demonstrationen hat Spuren im politischen Gedächtnis dieser Menschen hinterlassen. Die Aktionen gegen die Bebauung des Gezi-Parks waren durch einen besonderen Humor geprägt, mit dem die Bewegung über die Allianzgrenzen hinweg mobilisieren konnte. Kemalist*innen, Religiöse und bis dahin völlig unpolitische Jugendliche schlossen sich im Sommer 2013 gegen den autoritären Trend in der Türkei zusammen.

Der Komponist Erdem Helvacıoğlu lässt diese Momente mit seinen Feldaufnahmen noch mal vor dem geistigen Auge aufleben. Etwa eine Stunde geht sein Stück mit dem Titel „The Sounds of Resistance“ und führt die Hö­re­r*in­nen in 13 Episoden durch die unterschiedlichen Phasen der Gezi-Proteste. Dafür sammelte Helvacıoğlu in dem Zeitraum zwischen dem 30. Mai 2013 und dem 16. Juni 2013 mehrere Stunden Material.

Geschickter Einsatz von Nah- und Distanzaufnahmen macht die Komposition von Helvacıoğlu so szenisch: Etwa wenn sich bei einer fünfminütigen Einstellung aus der Ferne die Explosionen von Tränengasgranaten mit dem Möwengeschrei und Motorenlärm Istanbuls mischen. Oder wenn aus nächster Nähe zu hören ist, wie Menschen sich gegenseitig helfen und sich das Tränengas aus den Augen spülen. Darunter sind auch immer wieder Gespräche zu hören: wie die Wasserwerfer von hinten De­mons­tran­t*in­nen überraschen. Oder wie singende Menschen mit einem massiven Einschreiten der Polizei auseinandergetrieben werden und sich Panik verbreitet: „Wir wurden fast zertrampelt, ich konnte mich schwer retten“, ist die Stimme einer Frau zu hören.

Nah- und Distanzaufnahmen machen die Komposition so szenisch

Er habe nicht gewusst, in welche Richtung sich die Proteste entwickeln würden, sagte Erdem Helvacıoğlu am Mittwoch im Gorki-Theater, zugeschaltet aus Istanbul. Doch nachdem er am ersten Tag einfach drauflos aufgezeichnet habe, sei ihm klar geworden, dass sich in der Türkei mit den Protesten etwas Historisches abspiele. „Wenn ich die Aufnahmen jetzt wieder höre, erinnere ich mich an genau diese Momente, an die Geräusche, an die Gerüche.“

Im Gorki-Theater wurden die Aufnahmen an diesem Abend in einem dunklen Raum abgespielt, so wünscht es sich der Komponist, um die Hörkulisse aufleben zu lassen. Das funktioniert durchaus und steht für sich. Doch wer die Aufnahmen gleichzeitig als Dokument einer politisch einzigartigen Situation verstehen will und kein Türkisch spricht, könnte in der Dunkelheit auch etwas ratlos zurückbleiben.

Auf dem Gelände des Gorki-Theaters ist deshalb Helvacıoğlus Komposition zusätzlich in der eigens eingerichteten Gezi-Bibliothek zu hören, die Geräuschkulisse schiebt sich dann hinter einen Ausstellungspfad, der die Chronologie der vergangenen Jahre nachzeichnet. Zehn Jahre, in der die Politik in der Türkei immer autoritärer wurde – aber auch zehn Jahre des Widerstands, wie die Ma­che­r*in­nen der Veranstaltungsreihe betonen.

Gezi: Ten Years After bis 25. Juni im Gorki-Theater

„The Sounds of Resistance“ immer um 18.30 Uhr in der dortigen „Library of Resistance“, Eintritt frei